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Der Traum

Der Traum

Titel: Der Traum
Autoren: Emile Zola
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küßte sie leidenschaftlich.
    Den Huberts drehte es das Herz im Leibe um, während sie, selber dem Weinen nahe, stammelten: »Liebes, liebes Kind!«
    Sie war also noch nicht ganz so schlimm? Vielleicht konnte man die Kleine von dieser Heftigkeit heilen, die sie beide so in Schrecken versetzt hatte.
    »Oh, ich bitte Sie, bringen Sie mich nicht zu den anderen zurück!« stammelte sie. »Bringen Sie mich nicht zu den anderen zurück!«
    Mann und Frau hatten sich angesehen. Seit dem Herbst hegten sie tatsächlich die Absicht, ein Lehrmädchen ins Haus zu nehmen, irgendein junges Ding, das Fröhlichkeit in das vom Schmerz der kinderlosen Gatten so traurig gestimmte Haus bringen sollte. Und es wurde sogleich alles beschlossen.
    »Willst du?« fragte Hubert.
    Hubertine erwiderte ohne Hast mit ihrer ruhigen Stimme:
    »Ich möchte schon.«
    Unverzüglich nahmen sie die Formalitäten in Angriff. Der Sticker ging zum Friedensrichter des nördlichen Stadtteils von Beaumont, um ihm die Begebenheit zu erzählen, zu Herrn Grandsire, einem Vetter seiner Frau, dem einzigen Verwandten, den sie noch besuchten; und dieser übernahm alles Weitere, schrieb an die Jugendfürsorge, wo Angélique dank der Registriernummer unschwer identifiziert wurde, erreichte, daß sie als Lehrmädchen bei den Huberts bleiben konnte, die im Rufe großer Ehrbarkeit standen. Als der Unterinspektor des Arrondissements kam, um das Büchlein auf den neuesten Stand zu bringen, schloß er mit dem neuen Brotherrn den Vertrag ab, dem zufolge dieser letztere das Kind milde behandeln, es säuberlich halten, es die Schule und die Pfarrkirche besuchen lassen und ihm ein Bett geben sollte, in dem es alleine schlafen konnte. Die Behörde dagegen verpflichtete sich, ihm der Vorschrift entsprechend eine Entschädigung zu zahlen und die Kleidung zu liefern.
    Innerhalb von zehn Tagen war alles geregelt. Angélique schlief oben neben dem Dachboden im Giebelzimmer, das auf den Garten hinausging; und sie hatte schon ihren ersten Unterricht im Sticken erhalten. Am Sonntagmorgen, ehe Hubertine mit ihr zur Messe ging, öffnete sie in ihrer Gegenwart die alte Truhe in der Werkstatt, in der sie das Feingold verwahrte. Sie hielt das Buch in der Hand, sie legte es hinten in eine Schublade und sagte:
    »Sieh, wo ich es hinlege, damit du es nehmen kannst, wenn du Lust hast, und damit du dich daran erinnerst.«
    Als Angélique an jenem Morgen die Kirche betrat, befand sie sich abermals unter dem SanktAgnesTor. Trügerisches Tauwetter war im Laufe der Woche eingetreten, dann hatte die Kälte wieder eingesetzt, und zwar so streng, daß der halbgeschmolzene Schnee auf den Skulpturen zu einer blühenden Pracht von Trauben und Nadeln erstarrt war. Alles war jetzt Eis, durchsichtige Gewänder mit gläserner Spitze, die die Jungfrauen umhüllten. Dorothea hielt eine Fackel, deren durchsichtiges herablaufendes Wachs ihr von den Händen tropfte; Cäcilia trug eine Silberkrone, von der glänzende Perlen herniederrieselten; Agatha trug auf ihrer von der Zange zerbissenen Brust einen kristallenen Harnisch. Und es war, als stünden die Szenen des Giebelfeldes, die kleinen Jungfrauen der Bogenrundungen so seit Jahrhunderten hinter den Glasscheiben und den Edelsteinen eines gigantischen Reliquienschreines. Agnes selber schleppte einen fürstlichen Mantel nach, der aus Licht gesponnen und mit Sternen bestickt war. Ihr Lamm hatte ein Fell aus Diamanten, ihr Palmenzweig war himmelsfarben geworden. Das ganze Tor funkelte in der Reinheit der großen Kälte.
    Angélique erinnerte sich der Nacht, die sie dort unter dem Schutz der Jungfrauen zugebracht hatte. Sie blickte hoch und lächelte ihnen zu.
     

Kapitel II
    Beaumont besteht aus zwei völlig getrennten und unterschiedlichen Städten: Beaumontl˜Eglise auf der Höhe mit seiner alten Kathedrale aus dem zwölften Jahrhundert, seinem Bischofspalast, der erst aus dem siebzehnten Jahrhundert stammt, seinen kaum tausend Seelen, die zusammengedrängt, erstickt in der Tiefe seiner engen Straßen leben; und BeaumontlaVille unten am Hügel, am Ufer des Ligneul, eine ehemalige Vorstadt, welche die gedeihliche Entwicklung ihrer Spitzen und Batistfabriken reich gemacht und ausgedehnt hat, so daß sie fast zehntausend Einwohner zählt, weitläufige Plätze und eine hübsche Unterpräfektur nach neuzeitlichem Geschmack aufweist. Die beiden Stadtteile, der nördliche und der südliche, haben so fast nur auf dem Gebiete der Verwaltung Beziehungen zueinander. Obgleich
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