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Der Traum

Der Traum

Titel: Der Traum
Autoren: Emile Zola
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weiterhin schwieg, dachte Hubert, die Kehle sei ihr vielleicht so zugeschnürt, daß sie nicht antworten konnte.
    »Anstatt sie auszufragen«, sagte er, »täten wir besser daran, ihr eine gute Tasse recht heißen Milchkaffee zu geben.«
    Das war ein so vernünftiger Gedanke, daß Hubertine sogleich ihre eigene Tasse hinstellte. Während sie zwei große Scheiben Brot abschnitt, blieb das Kind mißtrauisch, wich immer noch zurück; doch die Qual des Hungers war stärker als alles, schließlich aß und trank die Kleine gierig. Um sie nicht zu stören, schwieg das Ehepaar und sah bewegt, wie ihre kleine Hand so sehr zitterte, daß sie den Mund nicht fand. Und sie bediente sich nur der linken Hand, ihr rechter Arm blieb hartnäckig an den Körper gepreßt. Als sie fertig war, hätte sie beinahe die Tasse zerschlagen, die sie gerade noch mit der Bewegung eines Krüppels ungeschickt mit dem Ellbogen festhielt.
    »Bist du denn am Arm verletzt?« fragte Hubertine. »Hab keine Angst, zeig mal, mein Herzchen.«
    Doch als sie sie anfaßte, erhob sich die Kleine ungestüm und wehrte sich; und bei diesem Ringen bewegte sie unwillkürlich den Arm. Ein kartoniertes Büchlein, das sie auf der bloßen Haut verbarg, glitt durch einen Riß ihres Mieders zu Boden. Sie wollte es schnell wieder an sich nehmen, ballte jedoch vor Wut die Fäuste, als sie sah, daß diese Unbekannten es aufschlugen und lasen.
    Es war ein Zöglingsbuch, ausgestellt von der Jugendfürsorge des Departement12 Seine. Auf der ersten Seite waren unter dem Amtssiegel des heiligen Vinzenz von Paul13 folgende Rubriken vorgedruckt: Name des Zöglings, und ein einfacher, mit Tinte gezogener Strich füllte den leeren Raum; dann stand bei den Vornamen: AngéliqueMarie; bei den Daten: geboren am 22. Januar 1851, aufgenommen am 23. desselben Monats, eingetragen unter der Registriernummer 1634. So waren also Vater und Mutter unbekannt, keine Papiere, nicht einmal ein Geburtsschein, nichts als dieses Büchlein, das von verwaltungsmäßiger Kälte starrte, mit seinem Umschlagdeckel aus blaßrosa Leinen. Niemand auf der Welt und eine Eintragung in der Gefangenenliste, die numerierte und klassifizierte Verlassenheit.
    »Oh! Ein Findelkind!« rief Hubertine aus.
    Da begann Angélique in einem tollen Zornesausbruch:
    »Ich bin mehr wert als alle anderen, ja, ich bin besser, besser, besser ... Niemals habe ich den anderen etwas weggenommen, und sie nehmen mir alles weg ... Geben Sie mir wieder, was Sie mir weggenommen haben.«
    Ein so ohnmächtiger Stolz, eine solche Leidenschaftlichkeit, die Stärkere zu sein, ließen ihren Körper, den Körper einer kleinen Frau, sich aufbäumen, daß die Huberts davon tief ergriffen waren. Sie erkannten das kleine blonde Mädchen mit den veilchenfarbenen Augen und dem langen, lilienhaft anmutigen Hals nicht wieder. Die Augen waren schwarz geworden in dem bösen Gesicht, der sinnliche Hals war von einer Blutwelle geschwellt. Jetzt, da ihr warm war, richtete sie sich in die Höhe und zischte wie eine aus dem Schnee aufgelesene Natter.
    »Du bist also ein schlimmes Kind?« sagte der Sticker sanft. »Es ist zu deinem Besten, wenn wir wissen wollen, wer du bist.«
    Und über die Schulter seiner Frau hinweg las er in dem Büchlein, das diese durchblätterte. Auf Seite 2 fand sich der Name der Amme.
    »Das Kind Angélique wurde am 25. Januar 1851 der Amme Françoise, Ehefrau des Herrn Hamelin, von Beruf Landwirt, wohnhaft in der Gemeinde Soulanges im Arrondissement14 Nevers, anvertraut; selbige Amme hat bei ihrer Abreise das Pflegegeld für den ersten Monat sowie eine Ausstattung erhalten.«
    Es folgte ein vom Anstaltsgeistlichen des Fürsorgeheims unterzeichnetes Taufzeugnis; dann ärztliche Bescheinigungen beim Fortgang und bei der Ankunft des Kindes. Die vierteljährlichen Auszahlungen des Monatsgeldes füllten weiter hinten die Spalten von vier Seiten, wo jedesmal die unleserliche Unterschrift des Steuereinnehmers wiederkehrte.
    »Wie, bei Nevers?« fragte Hubertine. »Du bist in der Nähe von Nevers aufgezogen worden?«
    Da Angélique die beiden nicht am Lesen hindern konnte, war sie hochrot angelaufen und wieder in ihr verstocktes Schweigen verfallen. Doch der Zorn löste ihr die Lippen, sie sprach von ihrer Pflegemutter.
    »Ach, sicher hätte Mama Nini Euch geschlagen. Sie, sie nahm mich in Schutz, obwohl sie mir trotzdem manchmal eine Ohrfeige gab ... Ach, bestimmt war ich nicht so unglücklich dort unten bei den Tieren ...« Ihre Stimme
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