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Der Traum des Satyrs

Der Traum des Satyrs

Titel: Der Traum des Satyrs
Autoren: Elizabeth Amber
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Sachen mitgebracht, da sein Aufenthalt hier offenbar nicht geplant gewesen war. Also sorgte Emma für Rasierzeug, Seife und Zahnpulver. Außerdem würde sie die Bediensteten anweisen, sich um seine Kleidung zu kümmern, falls er am nächsten Morgen Hilfe dieser Art wünschte.
    Auf dem Weg in ihr eigenes Schlafzimmer zog sie die Damastvorhänge an dem Fenster im Flur, das nach Westen hinausging, beiseite und betrachtete die dunkler werdenden Schatten. Nach ihrer Schätzung würde der Vollmond in einer halben Stunde aufgehen.
    Nicht mehr lange, bis Carlo käme.
    Ihre Finger am Vorhang zitterten, und sie umfing sie mit der anderen Hand, um das Zittern abzustellen. Kein Grund zur Furcht, mahnte sie sich selbst, als sie weiter zu ihrem Schlafzimmer ging. Es mochte ihm zwar gleich sein, ob er ihr weh tat oder nicht, aber er würde nicht riskieren, den wertvollen Erben, den sie in sich trug, zu verletzen.
    In ihrem Zimmer wurde sie bereits von einem Dienstmädchen erwartet, das ihr dabei half, aus dem Kleid zu schlüpfen und ihr Haar zu lösen und auszubürsten. Danach blieb sie für ihre Abendtoilette allein, denn das »Tagespersonal« verließ das Anwesen mit Sonnenuntergang, so wie es in allen Wohnsitzen der Herren von Satyr üblich war.
    Danach würden andere, die weit ungewöhnlicheren Angehörigen des »Nachtpersonals« erscheinen, um nach Belieben im Haus umherzuwandern. Bei diesen harmlosen und dienstbaren Wesen handelte es sich um entfernte Verwandte einer uralten Sippe in der Anderwelt. Tagsüber hielten sie sich verborgen, und bei Vollmond blieben sie immer unter sich. In anderen Nächten jedoch verbrachten sie die Zeit damit, unermüdlich Böden zu schrubben, Ställe auszumisten und andere unangenehme Arbeiten zu erledigen und dadurch das Leben für alle hier angenehmer und leichter zu machen.
    Sobald sie fertig war, ging Emma durch die Tür, die ihr Schlafzimmer mit dem von Carlo verband. Dort wuselte sie herum und bereitete alles für seine bevorstehende Ankunft vor. Sie zündete Kerzen an, goss eine Schale mit Öl voll, das nach Lavendel, Vanille und Sandelholz duftete – Essenzen, denen man beruhigende Eigenschaften nachsagte –, und füllte fünf weitere Schalen: drei mit reinigenden Kräutern und zwei mit klarem Wasser.
    Zu guter Letzt stellte sie einen Behälter mit Creme auf den Nachttisch. Es war ein neues Glas, denn das vom letzten Monat hatte sie in einem Temperamentsausbruch gegen die Wand geworfen, nachdem Carlo wieder verschwunden war. Sie sah sich im Raum um. Der Fleck war immer noch auf der Tapete sichtbar, eine beständige Erinnerung an jene schreckliche Nacht.
    Auf der Suche nach etwas Aufmunterung während des Wartens ging sie in ihr Zimmer, um den Gedichtband zu holen, in dem sie schon früher am Tag gelesen hatte. Zurück in Carlos Zimmer, setzte sie sich an seinen Frisiertisch, der direkt an der Tür stand, und öffnete das schmale Buch an der Stelle, wo sie das gepresste Veilchen hineingelegt hatte, das Jane als Lesezeichen für sie gemacht hatte.
    Sie konzentrierte ihre Gedanken auf eine Seite, um sie allein mit ihrem Willen umzublättern. Nach einigen Sekunden des Widerstands hob sich die Buchseite und stand gehorsam im rechten Winkel zum Buchrücken, als würde sie dort von Fingern gehalten und nicht nur von reiner Willenskraft.
    Missmutig versuchte Emma, die Seite dazu zu zwingen, sich ganz umzublättern. Die Seite zitterte, als würde sie sich anstrengen, doch dann, als würde sie aufgeben, fiel sie einfach in ihre alte Lage zurück.
    Es war ein Taschenspielertrick – einer der ganz wenigen, die sie beherrschte. Verglichen mit den außergewöhnlichen Fähigkeiten der anderen Familienmitglieder schienen die ihren so flach wie diese Buchseite.
    Anfangs, als sie hierhergekommen war, hatte Lyon versucht, mit ihr zu üben, doch ihre Bemühungen, ihr Talent zu verbessern, waren vergeblich gewesen, und sie hatten ihre übersinnlichen Übungsstunden längst aufgegeben. Dennoch versuchte sie diesen einen Trick gelegentlich heimlich, immer in der Hoffnung, dass er irgendwann funktionieren mochte.
    Würde sich dieses unbedeutende Talent von ihr auf ihren Sohn oder ihre Tochter vererben? Als wollte es seine Hoffnung darauf ausdrücken, wählte ihr Kind ebendiesen Moment, um sie zu boxen. Sie fuhr mit einer Hand über ihren gewölbten Bauch, und ein mütterliches Lächeln spielte um ihre Lippen.
    »Bald«, flüsterte sie sanft.
    Carlo irrte sich, wenn er glaubte, sie würde sich keine Kinder
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