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Der Trakt

Der Trakt

Titel: Der Trakt
Autoren: Arno Strobel
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nahmen dies zum Anlass für erneutes Gegröle.
    Panik stieg in Sibylle auf. Sie würde es niemals bis nach Hause schaffen. Sie kam ja keine fünfhundert Meter weit, ohne einen Menschenauflauf zu verursachen.
    Sibylle schrak heftig zusammen, als direkt vor ihr ein rotes Auto anhielt und hupte. Einem ersten Impuls folgend wollte sie weglaufen, aber was hätte das genützt? Als das Fenster auf der Beifahrerseite nach unten glitt, zögerte sie noch einen Moment, ging dann aber mit kleinen Schritten auf den Wagen zu, bückte sich und sah ins Innere.
    Eine korpulente Frau um die sechzig mit kurzen Haaren in dem knalligsten Rot, das Sibylle je auf einem Kopf gesehen hatte, und einer unmöglichen, grün geränderten Brille im Stil der 60er saß hinter dem Steuer und sah sie besorgt an.
    »Mein Gott, Kindchen, wie läufst du denn hier rum? Du bringst dich in Schwierigkeiten.«
    Sibylle brauchte nur einen Moment um zu erkennen, dass das ihre Chance war, schnell und ohne großes Aufsehen nach Hause zu kommen. Ihre Gedanken rasten.
    »Ja, ich weiß«, antwortete sie. »Ich hab … mich mit meinem Mann gestritten und bin so, wie ich war, einfach weggelaufen. Ich bin nur gerannt und gerannt, und jetzt –«
    »Und jetzt bist du offensichtlich zu einer Attraktion geworden«, antwortete die Frau mit einem Seitenblick zu den grölenden Jugendlichen. »Los, steig ein!« Sie beugte sich über den Beifahrersitz und öffnete die Tür von innen, wobei ihr gewaltiger Busen sich gegen den Schalthebel presste.
    Sibylle zögerte nur einen Moment, ehe sie einstieg und die Tür zuschlug. Sekunden später fuhr der Wagen zügig an, und es kümmerte die Frau hinter dem Steuer offenbar wenig, dass der Fahrer eines von hinten ankommenden Wagens scharf bremsen musste und dafür wild auf seiner Hupe herumhämmerte.
    Sibylle wischte sich den Schweiß von der Stirn und schloss die Augen. Sofort sah sie das Bild eines blonden Jungen vor sich. Er lächelte sie an und zeigte dabei die süßeste Zahnlücke, die man sich vorstellen konnte.

3
    Er sah dem Auto nach, in das sie gerade eingestiegen war und das beim Losfahren fast einen Unfall verursacht hatte. Als er es zwischen den anderen Fahrzeugen nicht mehr erkennen konnte, zog er das Telefon aus der Tasche und drückte die Wahlwiederholung.
    Sein Gesprächspartner musste mit dem Hörer in der Hand auf den Anruf gewartet haben, denn er meldete sich nach dem ersten Klingeln.
    »Ich bin’s«, sagte er knapp und gab in wenigen Worten seinen Bericht durch.
    Als er fertig war, sagte der andere: »Gut, Hans. Dann fahr jetzt zu dem Haus.« Damit war das Gespräch beendet.
    Hans klappte das Telefon zu, steckte es wieder in die Tasche seiner Jeans und ging los.
    Sein Wagen stand auf dem Parkplatz vor der Klinik. Auf dem Weg zurück wäre er fast auf eine Bananenschale getreten, die jemand achtlos auf den Bürgersteig geworfen hatte. Im letzten Moment sah er sie und setzte seinen Fuß daneben. Beim Weitergehen dachte er darüber nach, was es bedeutet hätte, wenn er ausgerutscht und hingefallen wäre und sich dabei etwas gebrochen hätte. Ein Ereignis mit vielleicht weitreichenden Folgen. Für den Doktor. Für
sie
 …
    Hans dachte oft über solche Dinge nach. Das ganze Leben bestand aus Ereignissen. Aus Menschen, Tieren und Dingen, die sich in jeder Sekunde milliardenfach strahlenförmig aufeinander zubewegten. Jedes Aufeinandertreffen war ein Ereignis, und jedes einzelne war es wert, darüber nachzudenken, denn wenn nur ein einziges der Elemente aus seiner Bahn gelenkt wurde, konnte das die Welt verändern.
    Wenn der Hund, der eigentlich mit einem Papierfetzen, einem verwelkten Ahornblatt, vielen Staubkörnern und vielleicht einigen Dreckklumpen auf dem Bürgersteig zusammentreffen sollte, plötzlich von einem Fußtritt auf die Straße befördert wurde, dann kam es nicht zu diesem Ereignis, sondern zu einem ganz anderen Aufeinandertreffen – vielleicht zwischen dem Hund, vielen anderen kleinen Dingen und einem Auto, auf dessen Beifahrersitz ein Junge saß, der eigentlich vierzig Jahre später einmal ein guter Bundeskanzler werden sollte. Der das aber nicht mehr werden konnte, weil der Fahrer des Autos bei dem Versuch, dem Hund auszuweichen, frontal auf ein entgegenkommendes Auto prallte.
    Vierzig Jahre später würde dadurch vielleicht jemand zum Bundeskanzler gewählt, bei dem der Wahnsinn knapp unter der dünnen Decke der Genialität nur darauf wartete, auszubrechen und großes Unheil in der ganzen Welt
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