Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Trakt

Der Trakt

Titel: Der Trakt
Autoren: Arno Strobel
Vom Netzwerk:
Nummern zu groß und hing schwer auf ihren Schultern.
    Das Geräusch des wegfahrenden Wagens hinter ihr registrierte sie nur nebenbei, weil in dem Augenblick dieses seltsame Gefühl wieder seine Klauen nach ihr ausstreckte. Diese Ahnung, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Selbst ihr Haus kam ihr mit einem Mal nicht mehr vertraut vor. Es war, als betrachte sie nicht das gewohnte Heim, in dem Lukas, Johannes und sie schon so viele glückliche Stunden erlebt hatten, sondern eine Kopie, die zwar ähnlich aussah, aber voller kleiner Fehler war und mit ihr und ihrer Familie nichts zu tun hatte.
    Was ist nur mit dir los, Sibylle Aurich?
Die Angst, dass sie tatsächlich den Verstand verlor oder schon verloren hatte, war so real, dass sie hätte schreien können.
    Von einer Sekunde zur nächsten hatte sie das Gefühl, nicht mehr stehen bleiben zu können. Sie gab sich einen Ruck und ging auf die Haustür zu.
    Im Garten, den man durch einen schmalen Weg an der rechten Seite des Hauses vorbei erreichen konnte, lag unter einem Blumentopf ein Ersatzschlüssel, aber sie hielt es für besser, zu klingeln. Wenn sie auch sicher wusste, dass sie keine zwei Monate im Koma gelegen hatte, so hatte sie doch kein Gefühl dafür, wie lange sie nicht bei ihrer Familie gewesen war. Sie wollte Lukas oder Johannes nicht zu Tode erschrecken, wenn sie plötzlich im Wohnzimmer stand.
    Zaghaft, als könne sie etwas damit zerstören, drückte Sibylle auf den Klingelknopf neben der Tür. Der gewohnte Gong ertönte, und ihr Herz schlug so heftig, dass sie glaubte, das Blut in den Ohren rauschen zu hören.
    Bitte, Gott, bitte, lass sie zu Hause sein.
    Als aus dem Haus Schritte zu hören waren, bekam sie vor Aufregung feuchte Augen. Die Tür öffnete sich, und Johannes stand vor ihr. Ohne eine Reaktion von ihm abzuwarten, rief sie »Hannes«, und fiel ihm um den Hals. Sie wollte ihn drücken, ihn küssen, seine Nähe in sich aufnehmen … – doch statt sich zu freuen, statt sie in den Arm zu nehmen und an sich zu drücken, stieß er sie mit solcher Wucht von sich weg, dass sie fast hingefallen wäre.
    »Sind Sie verrückt?«, schrie er sie an. »Wer zum Teufel sind Sie und was wollen Sie von mir?«
    Sibylle stand da wie gelähmt. Sie konnte nichts tun und nichts sagen. In ihrem Kopf war mit einem Schlag ein Vakuum entstanden, in dem die Wörter implodierten, bevor die Gedanken fertig gedacht waren. Schwindel ließ ihr Bild von Johannes hin und her schaukeln, der in einer überflüssigen Geste seinen Pullover glattzog. Es war der rote mit dem V-Ausschnitt, den sie ihm letztes Jahr zum 38. Geburtstag geschenkt hatte.
    Er betrachtete sie wie eine Außerirdische, ließ dabei den Blick über den zu weiten Mantel zu den türkisfarbenen Schuhen und wieder zurück zu ihrem Gesicht wandern.
    »Sind Sie von einer dieser Sekten oder so?«, fragte er. Sibylle starrte ihn an, noch immer nicht fähig, sich zu bewegen. »Sorry, aber da sind –«
    »Hannes!«, stieß Sibylle hervor. Ihre Stimme klang so heiser, dass sie ihr selbst fremd vorkam. »Aber … Hannes, was … Ich bin es doch, Sibylle.«
    Er zog die Brauen hoch, so dass sich auf seiner Stirn tiefe Falten zeigten. »Sibylle? Welche Sibylle? Und wieso nennen Sie mich Hannes?«
    Mit einem Mal fielen die Lähmung und das Entsetzen von ihr ab. Dafür stieg mit der Wucht eines Vulkans die blanke Wut in ihr hoch.
    »Mensch, Hannes! Jetzt hab ich aber endgültig genug von diesem Blödsinn!«, schrie sie den Mann an, mit dem sie verheiratet war und der plötzlich so tat, als hätte er sie noch nie gesehen. »Sind denn plötzlich alle total übergeschnappt? Schau mich an, Johannes Aurich. Vor dir steht deine Frau, Sibylle Aurich, geborene Fries. Mit dir verheiratet seit dem 25. Juni 1999. Gerade in einem Keller aufgewacht, wo man sie einsperren wollte. Jetzt sag mir bitte, dass du verdammt nochmal weißt, wer ich bin, und dir bloß einen schlechten Scherz erlaubt hast. Und dann lass uns endlich ins Haus gehen, mir geht’s nicht gut, und ich hab viele Fragen. Außerdem möchte ich sofort Lukas sehen. Wo ist er? Geht es ihm gut?«
    Johannes sah sie mit offenem Mund an.
    »Sie … Sie sind wer?« Er legte sich die Hand auf die Stirn und schüttelte immer wieder den Kopf.
    Sie fing an zu weinen. Langsam ging sie einen Schritt auf ihn zu, während die Tränen nasse, kitzelnde Striche auf ihre Wangen zeichneten.
    »Hannes, ich weiß nicht … du … du machst mir Angst. Große Angst. Kannst du jetzt damit
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher