Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser
Autoren: Michael Tsokos
Vom Netzwerk:
warum er sich in den letzten Wochen vor seinem Tode völlig paranoid verhalten und unter Wahnvorstellungen gelitten hatte, lieferte uns die Analyse seiner Kopfhaare: Holger Wehnert hatte etwa sechs bis sieben Wochen vor seinem Tode Lysergsäurediethylamid konsumiert – kurz: LSD.
    Haare sind wie ein Archiv. In ihnen lagern sich die Abbauprodukte von Drogen ab, so dass deren Konsum noch Monate, wenn nicht Jahre später nachweisbar ist. In Blut und Urin finden sich Drogen und ihre Spuren dagegen höchstens noch achtundvierzig Stunden, weshalb sich mit entsprechenden Proben ein länger zurückliegender Drogenkonsum nicht feststellen lässt.
    Kopfhaare wachsen etwa einen Zentimeter pro Monat. Entsprechend zeigt uns die Länge der Haare, wann der Betreffende welche Substanzen zu sich genommen hat. Hat jemand zum Beispiel sechs Zentimeter lange Kopfhaare, können wir sehr präzise sagen, wie oft und wann genau er welche Droge in den letzten sechs Monaten vor der Untersuchung konsumiert hat. Man kann so auch Aussagen von Beschuldigten überprüfen, die zum Beispiel angeben, in den letzten drei Monaten »clean« gewesen zu sein. Sagen sie die Wahrheit, werden wir in den ersten drei Zentimetern (von der Haarwurzel an) keine Spuren von Drogen finden.
    In den meisten Fällen wird die Haaranalyse eingesetzt, um einen chronischen, also regelmäßig und über einen längeren Zeitraum stattgefundenen Drogenkonsum nachzuweisen. Doch hat sich die toxikologische Forschung in den letzten Jahren so rasant entwickelt, und die Analysemethoden sind so ausgefeilt geworden, dass auch ein viele Wochen oder Monate zurückliegender einmaliger Konsum einer Droge oder eines Medikamentes noch nachgewiesen werden kann. Diese Möglichkeit findet zunehmend Anwendung zum Nachweis von K.-o.-Tropfen bei Sexualstraftaten, also verschiedener Schlaf-und Beruhigungsmittel, mit denen Opfer betäubt und damit wehrlos gemacht werden.
    Mittels Haaranalyse lassen sich nicht nur illegale Drogen wie Heroin, Kokain, Tetrahydrocannabinol (der Wirk stoff von Cannabis), LSD, Ecstasy oder andere synthetisch hergestellte Drogen (»Designerdrogen«) nachweisen, sondern auch Medikamente. Wenn beispielsweise bei einem Psychiatriepatienten das verschriebene Psychopharmakon nicht anschlägt, kann per Haaranalyse überprüft werden, ob er das Medikament überhaupt regelmäßig eingenommen hat oder die Einnahme nur vorgibt.
    Die Anwendungsmöglichkeiten der Haaranalyse sind fast unbegrenzt. Davon profitiert beispielsweise die Arbeitsmedizin (etwa unter der Fragestellung, ob ein Arbeitnehmer, der mit Gefahrstoffen umgeht oder sie transportiert, möglicherweise drogenabhängig ist und damit ungeeignet für diese verantwortungsvolle Aufgabe) sowie die Neugeborenenmedizin (um etwa festzustellen, ob nach mütterlichem Konsum während der Schwangerschaft auch Drogen in den Blutkreislauf des Kindes gelangt sind). Aber auch bei der Überprüfung der Schuldfähigkeit werden in manchen Fällen Haaranalysen durchgeführt, zum Beispiel um herauszufinden, ob eine Persönlichkeitsveränderung bei einem Angeklagten Folge einer Drogenabhängigkeit sein kann. Aussagen hierzu lassen sich in den meist erst Monate nach der eigentlichen Tat stattfindenden Gerichtsverhandlungen nämlich nicht mehr über Blut oder Urin treffen.
    Ein weiteres Einsatzgebiet der Haaranalyse ist die sogenannte Drogenabstinenzkontrolle: Solche Kontrollen werden von den Führerscheinbehörden in Auftrag gegeben, wenn jemand beim Fahren unter Drogeneinfluss erwischt wurde.
    Seit ein paar Jahren ist auch der Nachweis sogenannter »Alkoholismusmarker« in Haaren möglich, was neben Drogen nicht nur in der Fahreignungsbegutachtung (Medizinisch-psychologische Untersuchung, landläufig noch als »Idiotentest» bezeichnet) von Interesse ist, sondern auch für Familiengerichte bei Sorgerechtsstreitigkeiten. Sie erinnern sich vielleicht, dass Anfang 2007 Fotos von Britney Spears veröffentlicht wurden, auf denen sie sich mit kahlgeschorenem Kopf präsentierte. Die Boulevardpresse spekulierte, ob sie womöglich den Verstand verloren hatte oder eine akute Psychose für diese »Selbstverstümmelung« verantwortlich war. Sehr viel wahrscheinlicher ist etwas anderes: In dieser Zeit lief der Sorgerechtsstreit mit ihrem Mann um ihre beiden Kinder. Mit Glatze ließ sich der exzessive Drogenkonsum, der der Sängerin von der Gegenseite vorgeworfen wurde, nicht mehr nachweisen.
    Zurück zu unserem Fall und damit zuerst zu der in Holger
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher