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Der Totenleser

Titel: Der Totenleser
Autoren: Michael Tsokos
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rechtsmedizinischen Arbeit beschreiben. Keine Angst, doziert wird nicht, und vielleicht dienen Ihnen die Anekdoten aus meinem Arbeitsalltag auch als Erholungspausen. Denn dass Ihnen nicht die eine oder andere Geschichte an die Nieren geht, kann ich Ihnen nicht versprechen. Aber wenn Sie von allem Grausamen und Traurigen verschont werden wollten, hätten Sie wohl kaum zu diesem Buch gegriffen.
    Michael Tsokos
im Sommer 2010

RätselhafteVerfolger
    Es war Spätsommer, als im Binnenhafen einer norddeutschen Stadt die Leiche eines Mannes aus dem Wasser gezogen wurde. Ein Hafenarbeiter hatte der Polizei gemeldet, dass eine leblose Person ungefähr fünf Meter von der Hafenböschung entfernt im Wasser trieb. Als die Einsatzkräfte der Wasserschutzpolizei den Mann herausgezogen hatten, brachen sie noch vom Boot aus per Funk den eingeleiteten Notarzteinsatz ab. Hier wäre jegliche ärztliche Hilfe zu spät gekommen, denn schon ein erster oberflächlicher Blick zeigte, dass längst die Leichenfäulnis eingesetzt hatte.
    Die Beamten der Wasserschutzpolizei legten den Toten auf das Deck des Bootes. Er trug Jeans und eine per Reißverschluss geschlossene Windjacke, darunter ein T-Shirt. Der linke Fuß steckte lediglich in einer schwarzen Tennissocke, der rechte Fuß war nackt.
    Die Beamten machten sich daran, die völlig durchnässte und verschmutzte Kleidung des Toten auf Ausweispapiere oder andere Identitätshinweise zu durch suchen. In der Innentasche der Jacke wurden sie fündig: Neben ein paar völlig aufgeweichten Geldscheinen fand sich dort ein Personalausweis, ausgestellt auf den Namen Holger Wehnert, achtundzwanzig Jahre alt, wohnhaft in einer Kleinstadt nur wenige Kilometer von dem Binnenhafen entfernt. Das Alter von achtundzwanzig Jahren mochte zwar zu dem Toten passen, die Gesichtszüge der Wasserleiche aber waren aufgrund der fortgeschrittenen Leichenfäulnis nicht mehr zu erkennen. Damit schied ein Vergleich mit dem Foto auf dem Personalausweis aus. Die Beamten gaben die Personalien Wehnerts an die Einsatzzentrale weiter, damit von dort aus überprüft werden konnte, ob diese Person vielleicht bereits »polizeilich in Erscheinung getreten« war. Im Klartext: ob ihn jemand als vermisst gemeldet hatte oder Vorstrafen oder gar ein aktueller Haftbefehl gegen ihn vorlagen.
    Als die Wasserschutzpolizisten den Toten nun genauer untersuchten, entdeckten sie schlitzförmige Stoffdefekte im Brustbereich des T-Shirts. Also schob einer der Beamten das T-Shirt des Mannes hoch: Der Mann hatte mehrere Stichverletzungen in der Brust. Damit war der Tote im Hafen ein Fall für die Mordkommission …
    Zwei Stunden später wurde der Tote im Institut für Rechtsmedizin eingeliefert, wo bereits die zuständige Staatsanwältin und die zwei mit diesem Fall betrauten Beamten der diensthabenden Mordkommission anwesend waren sowie ein Fotograf der Spurensicherung. Bei Opfern von potentiellen Tötungsdelikten ist in der Regel ein Vertreter der Staatsanwaltschaft bei der Obduktion anwesend. Nach der Strafprozessordnung (StPO) liegt es zwar im persönlichen Ermessen des zuständigen Staatsanwalts (oder der Staatsanwältin), an einer Obduktion teilzunehmen, in Berlin ist dies jedoch immer der Fall, wenn der Verdacht auf ein Tötungsdelikt im Raum steht. Außerdem besucht er oder sie auch noch vorher den Tatort beziehungsweise Leichenfundort, um sich selbst ein Bild zu machen, statt sich auf Berichte und Fotos zu verlassen.
    Auf jeden Fall sind bei der Obduktion die zuständigen Ermittler der Kriminalpolizei anwesend, weil der Informationsaustausch so deutlich einfacher ist. Beispiels weise kann der Obduzent dem anwesenden Kommissar relevante Details gleich am Leichnam demonstrieren.
    Bei der äußeren Leichenschau konnte ich vor allem präzisieren, was auch die Wasserschutzpolizisten schon gesehen hatten: Die vier leicht schräg gestellten, zwischen 1,2 und 1,8 Zentimeter langen Stoffdefekte in Jacke und T-Shirt korrespondierten wie zu erwarten mit vier Stichverletzungen in der Brust des Mannes. Da der Tote sich in dieser Bekleidung längere Zeit im Wasser befunden hatte, war es nicht weiter verwunderlich, dass die entsprechenden Kleidungsstücke keine Blutflecken aufwiesen. Der Stoff war jeweils glatt durchtrennt und nicht etwa an den Rändern gerissen, was für ein scharfes Messer als mutmaßliche Tatwaffe sprach. Ansonsten gab es keine Anzeichen für Schnitte oder Stiche, weder an der Oberbekleidung des Toten noch an seiner Jeans. An dem im
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