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Der Tote trägt Hut

Der Tote trägt Hut

Titel: Der Tote trägt Hut
Autoren: Colin Cotterill
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Neffe.
    »Eine Nachttischlampe?«
    »O nein. Old Mel. Old Mel!« Seine Stimme bekam etwas Panisches.
    »Was? Was ist?«
    »Hier unten sind Skelette.«
    Mel hoffte, man würde nicht ausgerechnet ihm die Wiedereingliederung des Jungen übertragen. Von ihm verlangen, den Neffen zu subalternen Tätigkeiten heranzuziehen, bei denen sein Defekt kein allzu großer Nachteil war. Als Vogelscheuche zum Beispiel. Vielleicht fand er einen Zeugen, der beschwören konnte, dass der Junge schon halb hirntot gewesen war, bevor er in den alten Brunnenschacht fiel. Angesichts der vielen arbeitslosen Anwälte heutzutage konnte man nicht vorsichtig genug sein. Alles Schweinepriester, diese Anwälte.
    »Sind das Tierknochen, Junge?«, fragte er, um ihn nicht zu provozieren.
    »Nein, Old Mel. Es sind Menschen.«
    »Woran siehst du das?«
    »Der eine hat einen Hut auf.«
    So weit war ich mit meiner Prosaversion gekommen. Es wird einem glatt ausgetrieben, das Schreiben mit Herzblut. Und diese Version war auch eigentlich nur für mich gedacht. Um mir zu beweisen, dass die Diva in mir die Tastatur noch immer lieben kann, sofern ihr danach zumute ist. Wenn ich für Zeitungen schreibe, muss ich die Diva fesseln und knebeln. Dort mag man sie überhaupt nicht. Diese Leute wollen keine Liebe. Sie wollen ein kurzes Schäferstündchen, das schon bald vergessen ist. Sie wollen Daten und Zeiten, Zahlen und Fakten – und Statistiken. Sie wollen die Namen und das Alter der Opfer und der Täter, den Rang jedes einzelnen Polizeibeamten, der irgendwie mit dem Fall zu tun hatte, die wortgetreuen Zitate von Experten und die grammatikalisch unpräzisen Fehlaussagen der Augenzeugen. Es ist ihnen egal, was ich denke. Ich bin nur diese komische Kriminalreporterin, oder zumindest war ich das. Hin und wieder versuchte ich, eine Metapher einfließen zu lassen, doch die Mail ließ ihre redaktionelle Medusa auf mich los, bis mein Text aussah wie ein Lexikon kriminalistischer Begriffe mit Ortsnamen. Das Ergebnis landete sonntagmorgens am Zeitschriftenstand.
    ZWEI LEICHEN
    IN VERGRABENEM FAHRZEUG
    Provinz Chumphon. Zwei bisher nicht identifizierte Leichen wurden gestern in einem VW-Bus Typ 2 mit dem Kennzeichen Or Por 243 aus der Provinz Surat Thani gefunden, vergraben am Rande einer Ölpalmplantage im Unterdistrikt Bang Ka, Distrikt Lang Suan, in der Provinz Chumphon. Generalmajor Suvit Pamaluang von der Polizei in Lang Suan erklärte, die Leichen seien am Samstag, dem 23. August, um 08.00 Uhr morgens, von Mr. Mel Phumihan, dem Besitzer des Geländes, entdeckt worden. Bisher konnten die Toten nicht identifiziert werden, und es gibt keinerlei Hinweise darauf, wie das Fahrzeug dorthin gelangen konnte.
    Um 10.00 Uhr erhielten Constable Ma Yai und Constable Ma Lek vom Polizeirevier der Untergemeinde Pak Nam im Distrikt Lang Suan den Auftrag, nach Bang Ka zu fahren, nachdem dort um 09.23 Uhr ein Anruf eingegangen war. Bei ihrem Eintreffen auf Mr. Mels Plantage wurden sie von Mr. Mel (68) und seinem Tagelöhner, Mr. Anuphong Wiset (22), in Empfang genommen. Die beiden Männer hatten einen Brunnen ausgehoben und waren im Erdreich auf ein unerwartetes Hindernis in Form eines vollständig erhaltenen VW-Busses, Baujahr 1972, gestoßen, allgemein als »Bulli« bekannt, rot und beige lackiert. Die Beschreibung des Fahrzeugs wurde an das Polizeirevier in Surat durchgegeben, und noch immer sind die Beamten damit beschäftigt, vermisste Fahrzeuge aufzuspüren, auf die diese Beschreibung passt. Der diensthabende Sergeant Monluk Pradibat von der zentralen Kraftfahrzeugmeldestelle in Bangkok teilte unserer Zeitung mit: »Dieses Fahrzeug wird besonders schwer zu finden sein, weil unsere computerisierten Daten vermisster Fahrzeuge nur bis 1994 zurückreichen. Die Unterlagen aus der Zeit davor befinden sich in Aktenordnern in unserem Zentrallager.«
    Was die Identität der Toten angeht, so erklärte Police Major Mana Sachawarapong, der Chef des Reviers von Pak Nam, in dessen Zuständigkeitsbereich die Entdeckung gemacht wurde: »Die Identität der Leichen und die Todesursache werden noch untersucht, aber ich kann Ihnen schon jetzt sagen, dass es sich hierbei um einen Unfall, einen Mord oder die Folge eines Unglücks handeln dürfte.« Doch auch einen Selbstmord konnte der Revierleiter nicht ausschließen.
    So machte sie es immer, die thailändische Polizei. Alle Möglichkeiten offenhalten. Viermal ins Gesicht geschossen, in einem Zeitraum von zwanzig Minuten? Selbstmord ist nicht
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