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Der Tote am Steinkreuz

Der Tote am Steinkreuz

Titel: Der Tote am Steinkreuz
Autoren: Peter Tremayne
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hockte, hin und her schaukelte und wimmerte. Das war das Stöhnen, das er vernommen hatte. Er bemerkte dunkle Flecken auf der Kleidung der Gestalt. Dann weiteten sich seine Augen. Es waren Blutflecke, und etwas blinkte und funkelte im Lampenlicht, etwas in den Händen der Gestalt. Es war ein langes Messer.
    Einen Augenblick stand Menma unbeweglich da, gebannt von dem Anblick.
    Dann erkannte er eine zweite Gestalt in dem Zimmer. Jemand lag auf dem Bett, neben dem die stöhnende Gestalt kniete.
    Menma trat einen Schritt vor.
    Auf dem Bett, nackt bis auf die verrutschte Zudecke, lag der blutverschmierte Leichnam des Fürsten Eber. Eine Hand ruhte locker hinter dem Kopf. Die Augen waren starr und weit offen und wirkten in dem flackernden Lampenlicht wie lebendig. Die Brust war voller blutiger Wunden. Menma hatte oft genug das Schlachten von Tieren gesehen und erkannte sofort die Wunden von Messerstichen. Jemand mußte voller Wut das Messer immer wieder in die Brust des Fürsten von Araglin gestoßen haben.
    Menma hob die Hand, um sich zu bekreuzigen, ließ sie aber sofort wieder sinken.
    »Ist er tot?« fragte er mit hohler Stimme.
    Die Gestalt neben dem Bett wiegte sich weiter hin und her und stöhnte. Sie blickte nicht auf.
    Menma trat noch einen Schritt vor und schaute ungerührt auf den Liegenden. Dann ging er dichter heran, ließ sich auf ein Knie nieder und suchte den Puls am Hals des Fürsten. Der Leichnam fühlte sich bereits kalt an. Als er ihm nun näher in die Augen schaute und das Lampenlicht ihn nicht mehr täuschte, sah er, daß sie starr und glasig waren.
    Menma richtete sich auf und starrte angeekelt auf das Bett. Er zögerte und spürte, daß er sichergehen mußte, daß Eber tot war. Er hob den Fuß und stieß die Leiche mit den Zehen an. Keine Reaktion. Dann holte er aus und trat dem Leichnam kräftig in die Seite. Nein, er hatte sich nicht getäuscht. Fürst Eber war tot.
    Menma wandte den Blick auf die immer noch stöhnende Gestalt, die das Messer umklammerte. Er stieß ein rauhes Lachen aus. Plötzlich wurde ihm klar, daß er, der Pferdewärter Menma, so reich und mächtig werden würde wie die Vettern, die er sein ganzes Leben lang beneidet hatte.
    Er kicherte noch vor sich hin, als er die Wohnung des Fürsten verließ und sich auf die Suche nach Dubán machte, dem Kommandeur von Ebers Leibwache.

K APITEL 2
    Die tiefklingende Glocke der Abtei verkündete das neuerliche Zusammentreten des Gerichts. Es war am frühen Nachmittag, doch die Luft war nicht warm. Die kühlen grauen Granitmauern des Gebäudes schützten sein Inneres vor der Sonne. Die kleine Seitenkapelle der Abtei, die der Gerichtsverhandlung diente, war fast leer. Nur wenige Leute hatten auf den Holzbänken Platz genommen. Dabei hatte sich die Kapelle am Vortag bis zum Bersten gefüllt mit Klägern, Beklagten und Zeugen. Doch an diesem Nachmittag stand nur noch der letzte Fall, der vor diesem Gericht verhandelt wurde, zur Entscheidung an. In den zahlreichen anderen Fällen war bereits das Urteil gesprochen worden.
    Die Teilnehmer an dieser letzten Verhandlung, etwa ein halbes Dutzend, erhoben sich respektvoll, als der Brehon, der Richter, eintrat und seinen Platz am oberen Ende des Raumes einnahm. Es war eine Richterin, Mitte bis Ende zwanzig, und sie trug das Gewand einer Nonne. Sie war hochgewachsen, hatte ein hübsches Gesicht und rotes Haar, das sich unter ihrer Kopfbedeckung hervordrängte. Die Farbe ihrer Augen war schwer zu bestimmen, denn sie konnten je nach ihrer Stimmung in eisigem Blau leuchten oder in feurigem Grün funkeln. Ihre jugendliche Erscheinung entsprach nicht der allgemeinen Vorstellung von einem erfahrenen, weisen und gelehrten Richter, aber als sie in den letzten Tagen die Beweislage in verschiedenen Rechtsstreitigkeiten prüfte und abwog, hatte diese so jung wirkende Frau die Parteien vor ihr mit ihren Kenntnissen, ihrer Logik und ihrem Mitgefühl beeindruckt. Schwester Fidelma war tatsächlich eine ausgebildete dálaigh, eine Anwältin an den Gerichten der fünf Königreiche von Éireann. Sie besaß den Rang eines anruth, was bedeutete, daß sie nicht nur Fälle vor dem Richter vertreten, sondern auch, wenn sie dazu berufen wurde, selbst Fälle verhandeln und entscheiden durfte, die nicht die Anwesenheit eines Richters höheren Ranges erforderten. Fidelma war ausgewählt worden, als Richter dem Gericht vorzustehen, das in der Abtei von Lios Mhór tagte. Die Abtei lag außerhalb der »großen Befestigung«, die
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