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Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens

Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens

Titel: Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens
Autoren: Sebastian Niedlich
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hatte irgendwann in den letzten Minuten die Augen geschlossen und fing nun an, leicht zu keuchen.
    „Machst du das?“, fragte ich, immer noch nicht begreifend.
    „Nein.“
    Ich drückte die Hand etwas fester. „Aber was tust du hier?“
    „Warten.“
    Er war damals überraschend kurz angebunden. Immerhin hatte er schon diese mysteriöse Nummer drauf, die mich später zur Weißglut bringen sollte. Zu dem Zeitpunkt aber begriff ich noch gar nicht, was gerade geschah.
    Meine Oma fing an, nach Luft zu schnappen. Sie zuckte zwei-, dreimal. Dann war sie still und nur das „Na-Nuff, Na-Nuff“ der Bettnachbarin war zu hören. Ich hielt immer noch ihre Hand, die sich jetzt schlaff anfühlte.
    So richtig wollte mir nicht in den Kopf, was gerade passierte. Es wurde noch surrealer, als ich beobachtete, wie in ihrem Mundwinkel ein Fühler erschien, dann ein zweiter. Ein Tier zwängte sich aus dem nur leicht geöffneten Mund meiner Oma, um sich dann auf den Lippen zu entfalten und als bunter Schmetterling zu entpuppen. Mit einem Flügelschlag hievte er sich in die Luft und schwebte im Raum zwischen dem Tod und mir. Unwillkürlich streckte ich meine freie Hand aus, und der Schmetterling nahm darauf Platz.
    „Wirklich ein interessanter kleiner Kerl“, sagte der Tod, streckte einen Finger aus, und der Schmetterling flog zu ihm hinüber. „Deine Großmutter war eine gute Frau. Möchtest du ihr auf Wiedersehen sagen?“
    Noch immer hielt ich die Hand meiner Oma in einer der meinen. Ich blickte zwischen dem Schmetterling, der Hand und dem Gesicht meiner Oma hin und her. Langsam begann ich zu verstehen, und obwohl ich meine Oma mehr oder weniger nur als verwirrten Pflegefall in Erinnerung hatte, schossen mir die Tränen in die Augen.
    „Auf Wiedersehen, Oma“, hauchte ich dem Schmetterling zu und wischte mir den Rotz an meinem Ärmel ab.
    Tod nahm seinen Kescher und setzte den Schmetterling darin ab, dann drehte er sich wieder zu mir. „Es tut mir leid, Knabe, aber es war an der Zeit für sie.“
    Ich schluchzte. So weit dazu, dass ich sie ohnehin schon als halb im Jenseits betrachtet hatte.
    „Verrätst du mir deinen Namen, Junge?“
    „Martin.“
    „Es war schön, dich kennenzulernen, Martin. Ich bin mir sicher, dass wir uns wiedersehen werden. Die Frage ist eher, ob wir uns auch schon vorher mal treffen könnten.“
    „Wie meinst du das?“
    „Könnte ich dich mal besuchen?“
    „Stirbt dann wieder jemand?“
    Tod dachte einen Moment darüber nach. „Nein, zunächst nicht.“
    Ich nickte.
    „Du solltest deinen Eltern sagen, dass deine Großmutter gestorben ist.“
    Und dann war der Tod so schnell verschwunden, wie er gekommen war. Die erste von vielen Verschwindenummern, die ich noch erleben sollte. Ich legte die Hand meiner Oma neben ihr aufs Bett, öffnete die Tür und sagte meinen Eltern, dass Oma gerade gestorben war. Mein Gespräch mit dem Tod behielt ich instinktiv aber für mich.

Kapitel 3
    Die Tage nach dem Tod meiner Großmutter waren sonderbar. Meine Mutter war selbstverständlich über den Tod ihrer Mutter erschüttert, und auch meinem Vater ging es nahe. Bei mir allerdings wollte sich nach der anfänglichen Trauer, die ich noch im Krankenhauszimmer empfunden hatte, keine mehr einstellen. Bis heute bin ich mir nicht sicher, ob meine Eltern das nicht sehr merkwürdig fanden. Andererseits waren wir wohl alle der Meinung, dass es für sie das Beste gewesen ist, sofern wir das als „Außenstehende“ beurteilen konnten. Wirklich etwas vom Leben hatte sie nicht mehr, und irgendwie frage ich mich bis heute, inwiefern geistig verwirrte Menschen noch die sind, die sie einmal waren.
    Ein paar Wochen später, obwohl es mir wie eine Ewigkeit vorkam, fand schließlich die Beerdigung statt. Ich bekam für diesen Tag von der Schule frei, was mir den Neid meiner Mitschüler einbrachte, von denen aber der größte Teil noch seine Großeltern hatte. Wirklich nachvollziehen konnten sie den Verlust also nicht, bis auf Gerrit, der im Jahr zuvor seinen Opa verloren hatte und mir in der Pause sagte, wie leid es ihm täte und dass es „totale Scheiße“ sei.
    Es war die erste Beerdigung, die ich bewusst erlebte, und bis dahin war mir nicht klar, dass ich deswegen die guten Klamotten anziehen musste, die wohl jedes Kind verabscheut. Also wurde der Anzug herausgekramt, den ich schon im Jahr zuvor bei irgendeiner Familienfeierlichkeit anhatte und dessen Hosenbeine mir mittlerweile nur noch bis knapp unter die Schienbeine
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