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Der Tod ist mein Nachbar

Der Tod ist mein Nachbar

Titel: Der Tod ist mein Nachbar
Autoren: Colin Dexter
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sie sich unter den Ärmel der malvenfarbenen Jaeger-Jacke. Die Finger eines Pianisten. Sehr bald – der Turbo Express hatte gerade Reading verlassen – würde der Pianist wieder mit ihrem Körper spielen dürfen, wie über eine sanfte Melodie von Schubert.
    Sie hatte noch nie einen Mann gekannt, der sich selbst so unter Kontrolle hatte.
    Oder sie.
     
    Kurz vor Slough hielt der Zug.
    Als er sich zehn Minuten später langsam wieder in Bewegung setzte, ließ sich über den Lautsprecher der Zugbegleiter vernehmen:
    »Ladies und Gentlemen, wegen einem Ausfall der Signalanlage in Slough wird der Zug mit etwa fünfzehn Minuten Verspätung in Paddington eintreffen. Wir bitten unsere Fahrgäste vielmals um Nachsicht.«
    Der Mann und die Frau, die jetzt dichter zusammensaßen, sahen sich an und lächelten.
    »Was denkst du?« fragte sie.
    »Das fragst du mich oft, aber manchmal denke ich an gar nichts.«
    »Und jetzt?«
    »Jetzt habe ich nur gedacht, daß unser Zugbegleiter offenbar nicht weiß, welcher Kasus nach ›wegen‹ steht.«
    »Ich bin mir da auch nicht so sicher. Ist das denn wichtig?«
    »Natürlich ist das wichtig.«
    »Aber das wird uns hoffentlich nicht trennen …?«
    »Von dir kann mich nichts trennen«, flüsterte er ihr ins Ohr.
    Ein paar Sekunden sahen sie sich liebevoll an. Dann senkte er den Blick, nahm die gespreizte linke Hand von ihrem Schenkel und trank sein Bier aus.
    »Bevor wir in Paddington ankommen, Rachel, muß ich dir etwas Wichtiges sagen.«
    Sie sah ihn erschrocken an.
    Will er die Beziehung lösen?
    Will er mich loswerden?
    Hat er eine andere gefunden? (Seine Frau ausgenommen, natürlich.)
    »Die Fahrkarten, bitte.«
    Es schien die Jungfernfahrt des jungen Zugschaffners zu sein, denn er prüfte die ihm hingestreckten Fahrausweise mit einer Gründlichkeit, die an den Nerven zerrte.
    Der Mann holte die verbilligten Tagesrückfahrkarten aus der Brieftasche.
    »Ist das Ihre, Sir?«
    »Ja.«
    »Sind Sie Rentner?«
    »Nein, ich bin kein Rentner.« (Er sprach leise, akzentuiert und mit deutlich arrogantem Unterton.) »Einen Rentenanspruch hat man in diesem Land erst erworben, wenn man fünfundsechzig ist. Eine Senior Railcard hingegen bekommt man – wie Sie bestimmt wissen – bereits nach Vollendung des sechzigsten Lebensjahrs.«
    »Dürfte ich Ihre Railcard sehen, Sir?«
    Resigniert seufzend holte der Mann sie heraus, und der picklige junge Bahnangestellte ließ es sich nicht nehmen, alle Angaben genau zu prüfen.
     
    Gültig: bis 7. Mai 1996
    Ausgegeben für: J. C. Storrs
     
    »Wie zum Teufel sollte ich in Oxford meine Fahrkarte bekommen haben, ohne dies hier vorzuzeigen?« fragte der Senior Fellow von Lonsdale.
    »Er tut doch nur seine Pflicht, der arme Kerl. Und diese fürchterliche Akne …«
    »Stimmt. Du hast recht …«
    Sie nahm seine Hand und rückte wieder näher an ihn heran. Wenig später zog das Schild paddington an ihnen vorüber, und der Zug fuhr langsam in den langen Bahnsteig ein. In fast bedauerndem Ton machte der Zugbegleiter seine zweite Ansage: »Alles aussteigen, bitte. Alles aussteigen. Der Zug endet hier.«
    Sie warteten, bis alle Mitreisenden ausgestiegen waren. Und wie in Oxford hatten sie auch hier Glück: Im Zug war offenbar niemand, den einer von ihnen kannte.
    In der Brunei Bar des Bahnhofshotels bestellte Storrs einen großen Brandy (zwei Eiswürfel) für seine junge Begleiterin und ein kleines Smith’s Bitter für sich. Dann ging er auf die Praed Street hinaus und steuerte die kleinen Hotels in und um Sussex Gardens an. In mehreren waren, wie Schilder hinter den Scheiben verkündeten, Zimmer frei. Zwei dieser Herbergen hatte er bei früheren Besuchen »benutzt« (sagte man so?), diesmal aber wollte er eine neue ausprobieren.
    »Doppelzimmer?«
    »Eins haben wir noch. Nur die eine Nacht?«
    »Wieviel?«
    »Fünfundsiebzig Pfund für beide – mit Frühstück.«
    »Und ohne Frühstück?«
    Die Blondine (Wasserstoffperoxid) mittleren Alters, die hinter dem von Zigaretten angesengten Empfangstresen stand, schien sich über seine Absichten durchaus im klaren zu sein, denn ihr Blick verhärtete sich.
    »Fünfundsiebzig Pfund.«
    Zwei erfahrene Kämpfer nickten sich zu. »Ja, dann erst einmal schönen Dank. Wenn ich nichts Preiswerteres finde, komme ich noch mal vorbei und sehe mir das Zimmer an.«
    Er wandte sich zum Gehen.
    »Augenblick … Kein Frühstück, sagen Sie?«
    »Nein. Wir nehmen heute abend den Schlafwagen nach Inverness und brauchen nur eine Bleibe
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