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Der Tod ist mein Nachbar

Der Tod ist mein Nachbar

Titel: Der Tod ist mein Nachbar
Autoren: Colin Dexter
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stehenzubleiben und ihm ins Gesicht zu sehen.
    »Du – bist – ein – verdammtes – Flittchen! Die ganze Zeit, als wir dort gesessen haben, als ich dir erzählt habe …«
    Doch weiter kam er nicht.
    Die hochgewachsene Gestalt von Sir Clixby Bream tauchte in diesem Moment vor ihnen auf.
    »Guten Abend allerseits. Ich sehe, Sie sind schon auf dem Heimweg, oder wollen Sie mir nicht doch noch auf einen kleinen Schluck Gesellschaft leisten?«
    »Mich müssen Sie entschuldigen, Master«, sagte Cornford und konnte nur hoffen, daß man seiner Stimme nicht anhörte, wie verbittert er war. »Aber wenn …?« Er sah seine Frau an.
    »Nein. Heute nicht. Ein andermal. Danke, Master.« Cornford ging weiter, ohne nach rechts oder links zu sehen. Er befürchtete, daß der Master die peinliche Szene zwischen ihm und Shelly beobachtet hatte. Und dann geschah nach ein paar Schritten fast so etwas wie ein kleines Wunder: Shelly nahm seinen Arm, und er hörte sie mit leiser Stimme sagen: »Es tut mir so leid, Denis. Bitte vergib mir, Liebling.«
     
    Der Master bückte sich ein wenig, um durch die niedrige Tür die Turf Tavern zu betreten, und in diesem Moment hätte ein des Lippenlesens kundiger Beobachter sehen können, wie aus dem lächelnden Mund die genüßliche Bemerkung kam: »Schau mal einer an …!«

4
     
    Mittwoch, 7. Februar
     
    Jünger (weinend): O Herr, ich störe Deine Meditation.
    Herr: Deiner Tränen sind viele, der Göttliche Wille ist einzig.
    Jünger: Ich suche Weisheit und Wahrheit, doch meine Gedanken weilen ständig bei der Lust und den notwendigen Freuden einer Frau.
    Herr: Suche nicht Weisheit und Wahrheit, mein Sohn, suche vielmehr Vergebung. Jetzt geh in Frieden, denn wahrlich, du hast mich gestört – beim Meditieren über die Lust und die notwendigen Freuden einer Frau.
    (Kungfutse, Gespräche XXIII )
     
    »Immerhin ist er pünktlich abgefahren. «
    »Was kein großes Kunststück ist, der Zug startet ja in Oxford. Aber noch ist nicht aller Tage Abend, unterwegs fällt bestimmt irgendwo ein Signal aus.«
    Sie lächelte charmant. »Eigentlich komisch, wo es seit über hundertfünfzig Jahren Signalanlagen bei der Eisenbahn gibt und sie jetzt Computer und all das haben …«
    »Um genau zu sein – und das wollen wir doch –, seit über hundertsiebzig Jahren. Die Strecke Stockton-Darlington wurde 1825 eröffnet.«
    »Ja, das weiß ich noch aus der Schule. Stephensons Ro c ket und so weiter.«
    »Nein, mein liebes Kind, das war schon ein paar Jahre später. Stephensons erste Lokomotive hieß The Locomotive – eigentlich nicht schwer zu merken.«
    »Nein.«
    Diese eine Silbe kam sehr leise, und er wußte, daß er es wieder geschafft hatte, daß sie sich ihm unterlegen fühlte.
    Sie drehte sich von ihm weg und sah aus dem Zugfenster, wo gerade das große Herrenhaus mit der Sandsteinfassade in Nuneham Park am Horizont vorbeizog. Mehr als einmal hatte er ihr von der Geschichte dieses Hauses erzählt, von Capability Brown und einem Sowieso Adams, aber sie konnte sich diese Sachen nie so genau merken, wie er es offenbar erwartete. Beim letztenmal war sein Thema die Verstaatlichung der Eisenbahnen nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen. Im Jahre 1947. Oder 1948?
    Aber im Grunde war das ja auch unwichtig.
    Nur eine Jahreszahl würde sie nie vergessen: Das Jahr, in dem die Eisenbahngesellschaft ihren Namen in »British Rail« geändert hatte. Von ihrem Vater wußte sie, daß sie genau in jenem Jahr, genau an jenem Tag zur Welt gekommen war.
    1965.
    »Getränke? Erfrischungen?«
    Ein vollbepackter Wagen ratterte quietschend durch den Gang, und der Mann sah auf die Uhr (10.40 Uhr), ehe er sich an die Frau in dem eleganten Kostüm wandte, die neben ihm saß.
    »Möchtest du etwas? Kaffee? Für etwas Stärkeres ist es vielleicht noch ein bißchen früh …«
    »Gin Tonic, bitte. Und eine Tüte Kartoffelchips.«
    Blöder Sack. Er war mal wieder richtig unausstehlich heute.
    Einige Minuten später, nachdem er die Hälfte seiner Dose McEwan’s Export Ale in einen Plastikbecher gegossen hatte, wandte er sich ihr wieder zu, und sie spürte seine trockenen, ein wenig rissigen Lippen auf ihrer rechten Wange. Und dann hörte sie jene wunderschönen Worte, die jemand anderes vor ein oder zwei Monaten leise gesagt hatte: »Es tut mir leid.«
    Sie öffnete ihre weiße Lederhandtasche und nahm das Lippenbalsam heraus. Als sie ihm die Tube reichte, spürte sie seine schlanken, kräftigen Finger auf ihrem Handgelenk, dann tasteten
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