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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen
Autoren: Philip Pullman
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doch man hielt sie zurück, zu weit für eine Berührung.
    »Ja?«, sagte Sally mit heiserer, zitternder Stimme.
    »Miss Lockhart, ich muss Sie verhaften. Sie stehen unter der Anklage des versuchten Mordes. Alles, was Sie jetzt sagen, kann – «
    Verwirrung. In der Zuschauermenge brach plötzlich Unruhe aus; die drei Reporter, die in der Nähe standen, stürzten sich mit einem Mal nach vorn, um die Einzelheiten mitzubekommen. James Wentworth versuchte Jim davon zurückzuhalten, auf den Polizisten einzuschlagen; der Sekretär stand mit todernster Miene daneben und biss sich auf die Lippe; Margaret und Rebekka zwängten sich unter der Absperrung hindurch und eilten Sally zu Hilfe, die zu Boden gefallen war – zumindest sah es so aus. In Wirklichkeit hatte sie sich von dem Polizisten befreit, sich gebückt und aus ihrem zerrissenen, nassen Strumpf ein zusammengefaltetes Blatt Papier hervorgeholt. Mit zitternder Hand reichte sie es Margaret. »Mach es vorsichtig auf …«
    Die wogende Menge ringsum, die ganze Spannung des Augenblicks schien ihr Zentrum in diesem stillen Punkt zu haben: einem Fleck nassen Kopfsteinpflasters, auf den Tausende von Augen gerichtet waren. Margaret spürte, wie wichtig dieses Blatt sein musste, und ging behutsam daran, es aufzufalten, peinlich darauf bedacht, es dabei nicht zu zerreißen. Sally hatte das Blatt viermal geknickt. Wenn nun die Tinte ausgelaufen war …
    Margaret öffnete vorsichtig die letzte Faltung. Winterhalter war ein gründlicher Mann: Seine Listen waren auf Dauer angelegt, deshalb hatte er wasserunlösliche Tinte verwendet. Und da stand es schwarz auf weiß: Zahlungen an P wie Parrish.
    »Hier!«, sagte Sally und schaute die Umstehenden mit einem Ausdruck des Triumphes an, den keiner verstehen konnte. »Ich habe es geschafft. Nun, wo ist mein Kind?«

 
Kaninchen
     
     
    Der Einzige in der Menge, der wusste, was dieses Papier bedeutete, war der Sekretär und der zog sich sogleich zurück. Jim sah ihn und rief: »Haltet ihn!«
    Hände griffen nach dem Flüchtenden und hielten ihn fest. Mr Winterhalter wehrte sich und starrte wütend den Sergeant an, der Sally hatte verhaften wollen. Der Polizist blickte verwirrt zurück, bis sich Mr Wentworth einschaltete.
    »Sergeant, welche Anklage auch immer gegen Miss Lockhart vorhegt, als ihr Anwalt muss ich darauf bestehen, dass sie erst einmal ärztliche Hilfe erhält. Und wenn wir gehört haben, was sie über dieses offensichtlich sehr wichtige Papier zu sagen hat, können Sie immer noch entscheiden, ob Sie zur Verhaftung schreiten müssen oder nicht.«
    Der Polizist war sichtlich überfordert. Hier liefen zu viele Dinge gleichzeitig ab. Ihm war mittlerweile klar geworden, dass er seine Befugnisse überschritten hatte, als er Sally verhaften wollte, denn er wusste nicht mit Sicherheit, wer sie war. Um sein Vorgehen zu rechtfertigen, konnte er sich lediglich auf die Aussage des Sekretärs und auf ein dienstliches Rundschreiben zu einer Entführung berufen, an das er sich vage erinnerte. Auf jeden Fall ging es um ein Kind, aber diese Frau hier hatte nach ihrem Kind gefragt, also konnte sie es nicht entführt haben – Herrjemine! Er blickte einfach nicht durch.
    »Weitergehen, weitergehen«, sagte er mit strenger Miene zu niemandem Bestimmten.
    Winterhalter verlangte laut, sofort freigelassen zu werden, er wolle mit seinem Anwalt sprechen.
    Niemand nahm Notiz von ihm, denn in der Zwischenzeit war Sally ohnmächtig geworden. Jim hielt sie in den Armen, während Mr Wentworth und Margaret einen Weg durch die Menge bahnten, um zu einer Droschke zu gelangen.
    »Ähm, hören Sie, Constable Willis«, sagte der Sergeant unsicher, »folgen Sie der Droschke und lassen Sie die junge Frau nicht aus den Augen. Und alle anderen gehen jetzt bitte weiter. Machen Sie die Straße frei! Weitergehen, weitergehen.«
    »Verliert das Papier nicht«, sagte Sally, halb aus ihrer Ohnmacht erwacht. »Jim – bist du es wirklich? Jim, weißt du eigentlich, wer das war? Der Mann, der hier gewohnt hat?«
    »Der Zaddik«, sagte Jim. »Das hab ich zumindest gehört.«
    »Es war Ah Ling! Es war Hendrik van Eeden! Du erinnerst dich – ganz am Anfang – er hat meinen Vater umgebracht – Opium – «
    Jim hätte sie beinahe fallen lassen.
    »Aber du hast doch aus nächster Nähe auf ihn geschossen!«
    »Und ihn damit für den Rest seines Lebens gelähmt. Aber nicht getötet. Jemand muss ihn noch in derselben Nacht weggeschafft haben. Und seitdem – «
    Sie
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