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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen
Autoren: Philip Pullman
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Mal, wenn ein Ruf von den Feuerwehrleuten herüberdrang, traten sie einen Schritt näher und versuchten, den Atem anhaltend, über die Köpfe der Menge hinweg etwas zu erkennen. Und dann seufzten sie jedes Mal. Sie redeten nicht viel.
    Plötzlich spürte Margaret eine Hand auf ihrer Schulter.
    Sie drehte sich um und sah Jim – sonnengebräunt, zerzaust, erschöpft von der weiten Reise und mit grimmiger Miene. Sie stieß vor Überraschung einen kleinen Schrei aus und ergriff seine Hand.
    Margaret duzte sich mit ihm schon ebenso lange wie mit Sally. Am liebsten hätte sie ihn umarmt.
    »Weißt du vielleicht, was hier los ist?«, fragte sie, als sie sich die Hände geschüttelt hatten. »Oh – Verzeihung – das hier ist Miss Meyer, sie hat sich um Harriet gekümmert. Und das ist Mr Wentworth, der Rechtsanwalt der Firma. Aber wann bist du denn aus Südamerika zurückgekommen?«
    Jim erzählte, was sich in Orchard House abgespielt hatte.
    »Parrish war noch dort, als ich weggegangen bin«, sagte er. »Sarah-Jane steht ihnen jetzt Rede und Antwort. Mr Wentworth, ich werde auch einen Anwalt brauchen. Dieser Parrish lässt die Polizei nach seiner Pfeife tanzen. Aber wie zum Teufel – pardon – konnte das alles nur passieren?«
    Rebekka sagte etwas auf Deutsch. Mr Wentworth übersetzte: »Gab es in Twickenham keinen Hinweis auf das Kind, Mr Taylor? Miss Meyer macht sich große Sorgen. Sie wirft sich vor, nicht vorsichtiger gewesen zu sein.«
    »Sagen Sie ihr, das soll sie nicht. Ich sehe die Sache so: Dieser Mr Goldberg hat drei Trupps losgeschickt, um Harriet zu suchen. Einer kam hierher zum Fournier Square; Mr Mendel ging nach Twickenham und Mr Goldberg selbst ging nach Clapham. Wenn Harriet weder hier noch in Orchard House ist, dann – «
    Rebekka ergriff wieder das Wort. Sie sprach mit Nachdruck. Jim hörte den Namen Goldberg und betrachtete den Anwalt, dessen schäbiges Äußeres, in Verbindung mit dem klugen, fratzenhaften Gesicht und dem flammend roten Haar seine Aufmerksamkeit erregte.
    »Offenbar hat Mr Goldberg«, sagte Mr Wentworth, »heute Morgen aus eigener Kraft einen Aufruhr verhindert. In Whitechapel war ein Mob drauf und dran, eine Bäckerei in Brand zu stecken – so hat es jedenfalls Miss Meyer gehört. Goldberg soll die Bewohner der Gegend alarmiert haben. Dann sei er auf einen Stuhl gestiegen und habe begonnen den Randalierern eine Geschichte zu erzählen. Daraufhin hätten sie von ihrem Vorhaben abgelassen! Im ganzen East End redet man nun von ihm – er ist in diesem Viertel fast schon eine Berühmtheit. Aber am Ende wurde er verhaftet, so berichtet Miss Meyer.«
    »Verhaftet? Er auch? Aber wartet mal: Wenn er in Whitechapel war, kann er nicht in Clapham gewesen sein, also – «
    Margaret stieß einen Schrei aus, ergriff den Anwalt am Arm und zeigte auf die Trümmer des Hauses.
    Ein Feuerwehrmann winkte. Er bückte sich, um Ziegelsteine aus dem Weg zu räumen, und dann erschien ein Kopf, dann Schultern, ein Arm -
    »Das ist nicht Sally«, sagte Jim enttäuscht.
    Rebekka aber nickte mit lebhaftem Gesichtsausdruck und sprach rasch.
    »Sie ist es doch!«, sagte Mr Wentworth. »Miss Meyer sagt, sie habe sich die Haare kurz geschnitten und färben lassen.«
    Jim wartete keine Sekunde. Während er sich einen Weg durch die Menge bahnte, schnappte er sich eine Wolldecke und kletterte über die Schutthaufen. Auch die Feuerwehrleute stieß er beiseite, bis er die Stelle erreicht hatte – da lag Sally, völlig erschöpft, auf einem Berg Ziegelsteinen. Und dann sah sie ihn, keinen Meter von sich entfernt.
    Jim blieb stehen und schaute sie an.
    »Wie siehst du denn aus«, sagte er sanft. »Du solltest dich was schämen, am helllichten Tag hier im Nachthemd herumzuklettern. Nimm das und wickle dich darin ein …«
    Sally hüllte sich in die Wolldecke und lehnte sich zitternd an ihn. Auf seinen Arm gestützt, ging sie langsam in Richtung Gehsteig.
    »Wo ist Harriet?«, fragte sie mit schwacher Stimme.
    »Wir suchen noch nach ihr.«
    Sie kletterte über Schutt und Steine, die Strümpfe zerrissen, die Füße blutig. Hände streckten sich ihr helfend entgegen, Margaret war da und das russische Mädchen und ein Polizist.
    Und ein Mann, den Arm in der Schlinge, sagte mit deutschem Akzent: »Ja, das ist sie.«
    Und schon hielt sie ein Polizist am Arm fest. »Miss Lockhart?«
    Sie waren auf dem Bürgersteig, keine zwei Meter von der Menge hinter der Absperrung entfernt. Margaret streckte die Hand nach ihr aus –
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