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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen
Autoren: Philip Pullman
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niedergestreckt worden …«
    Mendel reichte ihm eine Vase mit Blumen, die der Verwüstung entgangen war, und Jim kippte den gesamten Inhalt über Parrishs Kopf aus. Als Parrish prustend aufwachte, beugte sich Jim zu ihm hinab und packte ihn am Kragen.
    »Wo ist das Kind?«, fragte er.
    Parrish antwortete nicht. Selbst in diesem Zustand, angeschlagen und vor Nässe triefend, lag eine Eiseskälte in seinen Augen. Er schaute Jim hasserfüllt an, ohne auch nur einen Ton zu sagen.
    »Keine Lust zum Reden, hm?«, sagte Jim und ließ ihn los.
    »Mr Taylor, es ist neun Uhr«, bemerkte Mendel. »Das Fernsprechamt öffnet jetzt. Ich schicke zum Telefonieren einen Mann hinunter ins Hotel. Ich glaube, Sie sagten vorhin etwas von Frühstück.«
    »Richtig«, sagte Jim. »Wie es aussieht, haben sich Parrishs Dienstboten aus dem Staub gemacht. Nun, wir können uns selbst ein paar Eier mit Speck braten und etwas Brot rösten. Oh, keinen Schweinespeck für Sie, Mr Mendel, entschuldigen Sie den Fauxpas. Aber vorher sollten wir den Burschen hier sorgfältig verschnüren. Und dann schaun wir mal, was noch an koscheren Vorräten da ist.«
    Jim sprach so leicht dahin, doch Sarah-Jane sah ihm an, dass er sich Sorgen um Harriet machte. Er und Mendel banden Parrish mit dem Daumen an den Treppenpfosten, dann gingen sie mit den anderen Männern zusammen in die Küche. Sarah-Jane schaute noch einmal zu Parrish zurück, wandte sich aber rasch wieder ab, denn der Hass in seinen Augen ließ sie frösteln.
    »Erzählen Sie mir von diesem Mr Lee«, sagte Jim ein paar Minuten später in der Küche. »Dieser – wie nennen Sie ihn doch gleich – Zaddik. Was bedeutet das übrigens?«
    »Es ist ein jiddisches Wort«, erklärte Mendel. »So nennt man einen gerechten und frommen Mann, einen Heiligen. Es kann aber auch genau das Gegenteil bedeuten, wie im vorliegenden Fall. Er ist Parrishs Prinzipal, er hat ihm ermöglicht, ins Geschäft einzusteigen. Er ist in einen groß angelegten Betrug an jüdischen Immigranten verwickelt und Mr Goldberg ist diesem Betrug auf die Spur gekommen. Ich denke, dass in Wirklichkeit der Zaddik und nicht der kleine Mann da draußen es auf Miss Lockharts Kind abgesehen hat. Er ist ihr eigentlicher Feind, Parrish ist nur eine Schachfigur. Ich vermute, man hat ihm das Haus hier als eine Art Vergütung überlassen. Dürfte ich Sie um die Marmelade bitten, Miss Russell?«
    Sarah-Jane war mehr und mehr fasziniert von diesem eleganten, weltläufigen Mann. Ihn umgab ein Fluidum aus Macht, Wohlstand und Autorität und es schien, als habe er mehr Raum und Zeit zu seiner Verfügung als gewöhnliche Menschen, so dass er sich frei und ungezwungen wie ein Fürst darin bewegen konnte. Und doch war er ein Gangster aus Soho! Nun saß er hier in der Küche und hörte Jim höflich zu, behandelte ihn wie einen seinesgleichen … Und sie wusste nicht, ob sie das bewundern oder bedauern sollte.
    Da hörte sie ein Geräusch aus dem Flur: eine Stimme – und mit einem Mal erinnerte sie sich wieder, was sie vom Korridorfenster aus gesehen hatte.
    »Oh, Jim!«, rief sie. »Wie konnte ich das nur vergessen – während ihr gekämpft habt, ist ein Mann aus dem Tor gelaufen – einer der Dienstboten – «
    Sie schaute zur Tür. Jetzt hörte auch Jim die Stimme und stand sofort auf.
    Sarah-Jane folgte ihm. Parrish stand neben der Treppe und rieb sich die Daumen. Neben ihm stand ein Polizist. Sarah-Jane sah durch die offene Haustür zwei weitere Polizisten, die die zertrümmerten Möbel inspizierten.
    »Das ist das Mädchen, das ich entlassen hatte, Constable«, sagte Parrish. »Sie muss die anderen ins Haus gelassen haben.«
    Jim trat vor. »Guten Morgen, Constable Andrews«, grüßte er den Beamten. »Freut mich, Sie zu sehen.«
    Der Polizist war sichtlich verlegen.
    »Schauen Sie, Mr Taylor«, sagte er. »Ich weiß, dass Sie gerade erst heimgekommen sind und daher nicht auf dem Laufenden sind. Aber so kann es hier nicht weitergehen. Es tut mir leid, Mr Taylor, aber ich muss Sie leider mit auf die Wache nehmen.«
    »Mich? Ja, weswegen denn?«
    »Unerlaubtes Betreten des Grundstücks und Einbruch. Rauferei. Das genügt fürs Erste. Ferner will Mr Parrish Sie auf Schadensersatz verklagen, aber das ist seine Sache. Nun machen Sie bitte keine Schwierigkeiten – «
    »Sie scherzen wohl«, empörte sich Jim. »Sie wissen genau, dass ich hier wohne. Sie haben hier sicherlich ein Dutzend Mal in der Küche gesessen und ein Glas Bier getrunken. Diesen Mann
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