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Der Tierarzt kommt

Der Tierarzt kommt

Titel: Der Tierarzt kommt
Autoren: James Herriot
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Kuh. Ihr Euter sackte immer tiefer, und die Zitzen wurden immer länger, und wenn sie sich hinlegte, kamen die Zitzen in die Reichweite der Tiere daneben. Und wenn sie nicht von Mabel, die rechts von ihr stand, getreten wurde, dann von Buttercup auf der anderen Seite.
    Nur sechs Kühe standen in dem gepflasterten kleinen Stall mit dem niedrigen Dach und den Holzstangen zwischen den Ständen, und sie alle hatten Namen. Heute findet man kaum noch Kühe mit Namen und auch keine Farmer mehr wie Mr. Dakin, der sich mit sechs Milchkühen, ein paar Kälbern, Schweinen und Hühnern mehr schlecht als recht seinen Lebensunterhalt verdiente.
    »Na ja«, sagte er. »Schließlich ist mir das alte Mädchen nichts schuldig geblieben. Kann mich noch erinnern, wie sie vor zwölf Jahren geboren wurde. Die alte Daisy hat sie geworfen, und ich habe sie auf einem Sack aus dem Stall hier rausgetragen, und es hat entsetzlich geschneit. Kann nicht sagen, wie viele tausend Liter Milch sie seitdem gegeben hat – und sogar jetzt gibt sie noch vier am Tag. Nein, die ist mir nichts schuldig.«
    Blossom drehte den Kopf und sah ihn an, als ob sie wüßte, worüber er sprach. Sie war das klassische Beispiel eines alten Rindes; genauso hager wie ihr Besitzer, hervorspringende Hüftknochen, krumme, dicke Beine und Hörner, auf denen sich zahllose Ringe abzeichneten. Das einst hohe und feste Euter hing schlaff und traurig fast bis auf den Boden.
    Auch in ihrer stillen und geduldigen Art ähnelte sie ihrem Besitzer. Ich hatte ihr ein örtliches Betäubungsmittel in die Zitze gespritzt, bevor ich die Wunde zunähte, aber ich glaube, sie hätte sich auch sonst kaum bewegt. Beim Vernähen von Zitzen sitzt der Tierarzt in der idealen Lage für Fußtritte; mit gebeugtem Kopf direkt vor den Hinterbeinen, aber bei Blossom bestand keinerlei Gefahr. Sie hatte in ihrem Leben noch nie nach jemandem ausgeschlagen.
    Mr. Dakin stieß einen schnaufenden Seufzer aus. »Tja, da bleibt wohl keine andere Wahl. Sie wird dran glauben müssen. Ich werde Jack Dodson sagen, er soll sie am Donnerstag abholen und zum Schlachten bringen. Für Steaks ist sie wahrscheinlich ein bißchen zu zäh, aber für den Fleischwolf taugt sie noch.«
    Er gab sich Mühe, es von der komischen Seite zu nehmen, aber als er die alte Kuh ansah, brachte er kein Lächeln zuwege. Hinter ihm sah ich durch die offene Stalltür das grüne Hügelland und den Fluß, auf dem die Frühlingssonne mit ihren Strahlen Millionen tanzender Lichtflecke erflimmern ließ. Das steinige Ufer leuchtete knochenweiß unter dem grasigen Hang, der sich zum Weideland darüber emporstreckte.
    Ich hatte mir oft gedacht, daß diese kleine Farm der ideale Ort für ein geruhsames Leben wäre; kaum anderthalb Kilometer von Darrowby entfernt, aber doch abgelegen und mit dieser herrlichen Aussicht auf den Fluß und die Hügel. Ich bemerkte es einmal Mr. Dakin gegenüber, und der alte Mann sah mich spöttisch an.
    »Mag sein, aber die Aussicht bringt nicht viel ein«, sagte er.
    Zufällig kehrte ich am folgenden Donnerstag auf den Hof zurück, um eine Kuh auszukratzen, und ich war gerade im Stall, als Dodson, der Viehtreiber, kam, um Blossom abzuholen. Er hatte schon eine kleine Herde fetter Ochsen und Kühe beisammen, auf die oben auf der Straße einer seiner Männer aufpaßte.
    »Na, Mr. Dakin«, rief er, als er sich in den Stall schob, »ich kann mir schon denken, welche ich mitnehmen soll. Das alte Gerippe da hinten.«
    Er zeigte auf Blossom, und eigentlich entsprach seine respektlose Beschreibung durchaus dem knochigen Gestell zwischen den wohlgerundeten Nachbarinnen.
    Der Farmer antwortete nicht gleich, dann ging er zu Blossom in den Stand und kraulte ihr liebevoll die Stirn. »Ja, das ist sie, Jack.« Er zögerte und löste schließlich die Kette von ihrem Hals. »Nun geh nur, altes Mädchen«, sagte er leise, und das Tier drehte sich um und ging friedlich aus dem Stand.
    »Los, komm schon!« rief der Viehtreiber und stieß ihr den Stock in die Rippen.
    »Du sollst sie nicht schlagen!« bellte Mr. Dakin.
    Dodson sah ihn überrascht an. »Ich schlage sie nie, das weißt du doch. Ich bring sie nur auf Trab.«
    »Ich weiß, ich weiß, Jack, aber für die da brauchst du deinen Stock nicht. Die folgt dir brav, wohin du willst – so war sie schon immer.«
    Blossom bestätigte es, als sie durch die Stalltür ging und auf einen Wink des Farmers den Pfad zur Straße hinauftrottete. Der alte Mann und ich sahen ihr zu, wie sie
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