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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir
Autoren: Tanja Langer
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der ehemaligen DDR gearbeitet und sei viel im Ausland gewesen, Brasilien, Libyen, Paris, überall. Helen rennt auf die Toilette, übergibt sich. Sie befürchtet, verrückt zu sein. Paranoid.
    Am nächsten Tag geht Helen nicht in die Behörde, am übernächsten auch nicht. Sie bleibt am Wochenende zu Hause und fährt nirgendwo hin.
    8
    Ich höre jetzt auf zu zählen. Dies ist der Abgesang auf eine vergangene Epoche. Die Finanzkrise hält an. Menschen gehen auf die Straße und demonstrieren gegen die Macht der Banken. Es gibt eine Statistik von Managern, die sich das Leben genommen haben. Ich gehe nicht mehr in die Behörden, ich hefte alle Notizen in dicke Ordner, lege alle Unterlagen in Kartons, schreibe mit dem schwarzen Edding die Jahreszahlen darauf, wie ich es immer getan habe, und Stichworte dazu, ich trage die Kartons in den Keller. Ich freue mich plötzlich, unbändig, möchte brüllen, ich gehe tanzen, gleich heute, genug, es ist genug. Du fehlst mir.
    Ja, ja, nein, nein, man hat dich verraten, ich weiß es.
    Doch andere sollen die Arbeit ab jetzt übernehmen. Sie sollen die Akten wälzen, herausfinden, wie die Verbindungen der Geheimdienste waren, wann und wo Nora oder wer auch immer dich abgehört, getroffen, mit dir verhandelt oder dich bespitzelt hat. Was es mit der russischen Delegation auf sich hatte, die du kurz vor deinem Tod empfangen hast, und was mit der Übernahme einer amerikanischen Bank am Tag danach. Wer dich am Ende und warum hat töten lassen. Ich reiche den Stab weiter, denn die Suche führt in Bereiche der Wirklichkeit, für die es bessere Agenten gibt als mich.
    Sieben, acht Jahre, die ich dich kannte. Sieben, acht Jahre, die ich an dieser Geschichte schrieb. Langzeitbelichtungen bewirken eine faszinierende Unschärfe, die viele Fragen aufwirft, ich bin am Ende meiner Geschichte mit dir. Hier ist mein Bild.
    9
    Hier encore
    J’avais vingt ans
    Je caressais le temps
    Et jouais de la vie
    Comme on joue de l’amour
    Et je vivais la nuit Sans compter sur mes jours
    Qui fuyaient dans le temps
    Charles Aznavour, Hier encore
    Liebster Julius, lieber Herr,
    ich komme zum Ende dieses Buchs, ich muss dich ziehen lassen. Ich werde an dich denken wie an meinen Großvater oder meinen Vater, ich werde an dich denken, wie man an geliebte Menschen denkt, die nicht mehr am Leben sind.
    Wir werden nicht mehr darüber scherzen können, dass ich Perrier mit Wasser bestellt habe, wie du es später immer gern wiederholt hast, in Erinnerung an unseren ersten gemeinsamen Abend, an dem du mein Herz gewannst. Lilja, hast du so gern gesagt.
    Ich schrieb vor langer, langer Zeit meinen ersten Brief an dich, einen ziemlich frechen Brief. Zum ersten Mal von vielen, vielen Malen schrieb ich:
    Lieber Herr!
    Lieber Herr, ich schreibe Ihnen, weil es sehr reizend war, dass Sie sich für meine Ansichten interessierten, und obwohl Sie doch bestimmt keine Zeit haben, sich mit meinen Briefen zu befassen oder mir zu antworten. Ich schreibe Ihnen trotzdem und, um ehrlich zu sein, weil ich gern jemanden habe, dem ich schreiben kann, und weil Sie so nette hellgraue Augen haben.
    Am nächsten Tag riefst du an. Im Restaurant. Papa ging ran, wie meistens. Oder war es doch Mama an diesem Tag? Es kam ja auch vor, dass Papa dranging, wenn du anriefst. Jedes Mal kam er aufgeregt in die Küche gerannt, in der ich gerade ein Petersiliensträußchen auf einen Teller zwischen Kartoffelbrei und Braten neben eine Scheibe Tomate steckte oder ein paar Gläser polierte. » Für dich, Lilja, für dich, Herr Turnseck!« Der Bankier rief an, für seine Tochter. Das fand er toll. Die Tochter wischte sich die Hände an der Schürze ab ging durch die Küche in die Bar, wo das Telefon stand, und nahm den Hörer.
    Die Stimme an Helens Ohr war jungenhaft, zärtlich, voller Leben und schön. Die Stimme gelangte in Helens Ohr und in ihr Herz und blieb dort. Die Stimme sprach ein bisschen ruhrpöttlerisch. Sie sagte wollwoll und hab’ s fein und ich liebe dich, Helen. Lilja.
    Sie war wie dein Lächeln, dein Lachen,
    dein beschwingter Gang –
    So, wie du die Treppe runterkamst, zum ersten Mal, im Hotel in Frankfurt, ich sehe es wie einen kubistischen Film oder wie auf dem Bild von Marcel Duchamp, auf dem eine Frau die Treppe hinuntergeht. In Wirklichkeit sind es zehn Frauen, die die Treppe runterkommen, zehn ineinander gestapelte, leicht versetzte Frauen. Die eine Frau ist überall, auf allen Stufen zugleich. Die Frau ist die Stufen. Die Frau ist die
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