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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir
Autoren: Tanja Langer
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auf die Dinge, die er sagte. Manche Dinge, die er sagte, hörte sie wie zum ersten Mal. Sie bekam Magenkrämpfe. Sie ließ das Band nicht bis zum Ende laufen.
    Vielleicht war es das Gefühl der Fremde, das sich so stark mit der Vertrautheit ihrer Erinnerung mischte, wie in einer Unschärfezeichnung, die das Auge korrigieren will und nicht kann. Wie bei den Bildern von Gerhard Richter, bei denen sie immerzu das Gefühl hatte, sie müsste eine Brille zur Hand nehmen, um sie richtig sehen, richtig erkennen zu können.
    8
    Simon versuchte, Helen beizustehen. Doch es war, als wäre Helen aus ihrem Leben herausgefallen, ihrem gemeinsamen, aus dem Leben überhaupt. Sie saß herum, irrte ziellos durch die Straßen. Sie saß stundenlang in ihrer Küche und sah Simon an wie einen Fremden. Als sie sich nach Monaten langsam löste, war sie nicht mehr die Helen von davor. » Ich kann nicht«, sagte sie oft und fing an zu weinen. Sie trennten sich, und das Foto, das Simon von ihr gemacht hatte, in den Ferien, und das später von ihr in der Zeitung erschien, blieb die Erinnerung an eine ausgelassene, glückliche Zeit. Helen mit zerzausten Haaren, im ärmellosen Sommerhemd, mit blitzenden Augen.
    » Beschäftigen Sie sich doch mit den Terroristen«, schlug ihre Psychotherapeutin vor, » setzen Sie sich damit auseinander, damit helfen Sie sich und anderen.«
    » Bin ich bescheuert?«, sagte Helen. » Keine Sekunde werde ich mich mit diesen Leuten beschäftigen, keine Sekunde.«
    9
    Mehrere Jahre vermied ich es zu fliegen.
    Davor war ich, nicht oft, aber leidenschaftlich gern auf Flughäfen gewesen. Ich liebte die Gongs, die ertönten, die Tafeln, auf denen Namen von Orten standen, die ich alle kennenlernen wollte. Die Menschen mit den verschiedensten Hautfarben und Kleidern, die aus anderen Kontinenten kamen, um zu bleiben oder umzusteigen. Eine grundlose Freude überkam mich, über diese Aufregung und Unruhe, über brüllende Kinder und übermüdete Geschäftsmänner, die mit offenem Mund schliefen, ihre Taschen in den Armen vor den Leib geklemmt. Damals gab es keine Handys, keine Laptops, keine Anrufe und E-Mails, die wach hielten und die Geschäfte in Gang.
    Meine Verzweiflung nach deinem Tod konnte ich nicht lieben. Ich erklärte sie für nichtswürdig, überflüssig, unbegründet; es war mir nicht bewusst. Die Witwe durfte verzweifelt sein, die Töchter durften es, die Freunde, ich nicht. Dann holte mich das Leben zurück, zum Glück. Was blieb, war ein schwarzer Fleck in mir, irgendwo. Erst im Schreiben jetzt öffnet sich der Abgrund meiner Verzweiflung; ich reiße eine verheilte Wunde auf; ich verfluche es; widersprüchlich, wie dieser Vorgang ist, ist diese ganze Geschichte. Nichts zu ändern daran. Noch lange Zeit nach deinem Tod glaubte ich, dich zu sehen. Auf Flughäfen vor allem.

VII.
    Nachklang

1
    Als ich dein Geburtshaus sehen wollte, setzte ich mich in den Zug und fuhr nach Essen. Am Bahnhof fragte ich nach dem Viertel, in dem du gewohnt hattest, und lief den Weg zu Fuß. Ich fotografierte die nähere Umgebung, notierte mir Straßennamen, Plätze, Schulgebäude, Brücken und Bäume. In deiner Straße sah ich mir die anderen Häuser genau an, bevor ich vor deinem stehen blieb. Die Hausnummern waren nicht identisch mit denen von früher, du hattest es mir einmal gesagt, aber ich hatte mir die neue Nummer nicht aufgeschrieben, wozu auch, ich wusste nur, dass es ein Haus an der Ecke war, und davon gab es in der kurzen Straße nur zwei. Solange du am Leben warst, hatte ich niemals das Bedürfnis, mir deine Vergangenheit anzusehen. Ich fing erst an, mich für solche Dinge zu interessieren, als ich selbst Kinder bekommen hatte und als ich mit dem Schreiben von Romanen anfing und mir die Biografien meiner Figuren ausbuchstabierte.
    Das Geschäft im Erdgeschoss, in dem sich zunächst die Metzgerei deiner Großeltern befunden hatte, gab es nicht mehr, und erst einige Straßen weiter entdeckte ich einen gekachelten Laden, der leer stand, in dem es vielleicht einmal eine gegeben haben könnte. Ich wusste nicht, in welchem Stockwerk du gewohnt hattest, ich vermutete, weiter oben, dort, wo es einen hübschen Erker gab, einfach deshalb, weil mir diese Vorstellung gefiel. Das gelbe Haus war inzwischen sicher einige Male renoviert und neu gestrichen worden. Hatte es eine andere Farbe bekommen? War es früher weiß oder grau oder grün gewesen?
    Ich hielt mich eine ganze Weile dort auf, in diesem Viertel, das kein Arbeiterviertel war,
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