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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir
Autoren: Tanja Langer
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hast einmal gesagt, es hat keinen Sinn, sich verrückt zu machen. Du kannst das Leben nicht zu Ende denken.
    5
    Fünfzehn Jahre später, siebzehn, achtzehn Jahre später –
    Zerstörte Gedächtnisflächen wuchern neben komischen Begebenheiten. Zeit dehnt sich, Zeit zieht sich zusammen. Die Familie weigerte sich, sich öffentlich zu Julius zu äußern. Viele wandten sich an Helen. Helen verstand es und Helen wurde wütend. Helen verstand Pia, es bedeutete Zerstörung und neue Trauer, doch Helen wurde wütend, dass sie allein damit blieb.
    Als Helen über Julius schrieb, ereignete sich die Finanzkrise; es war, als strömte die größere Geschichte direkt durch sie hindurch und veränderte wieder und wieder ihren Blick auf die Vergangenheit.
    Achtzehn, neunzehn Jahre, zwanzig Jahre später –
    Der Schmerz in ihrer Schulter meldete sich erneut, und eines Tages, als Helen von ihrer Physiotherapeutin nach Hause kam, las sie in der Zeitung, dass die Terroristin Annette S., vor Jahren vorzeitig aus der Haft entlassen, eine Ausbildung zur Heilpraktikerin gemacht hatte. Sie sollte nun erneut vernommen werden. Helens Herz raste. Was, wenn der blanke Zufall sie genau zu dieser Person geführt hätte? Wenn sie sich deren Händen überlassen hätte, ohne Wissen um ihre Identität, voll Vertrauen auf Hilfe und Heilung? Ihr Widerstand gegen die Gewalttätigkeit in den Wirklichkeiten, die so fern von ihren eigenen lagen und denen sie sich hier gegenüber sah, wuchs. Ihre Finger schmerzten jetzt auch, wenn sie am Schreibtisch saß. Ich muss stärker werden als der Gegenstand, sagte sie sich, ging in die Behörden, studierte Akten, recherchierte und schrieb. Sie blickte im Traum in einen Spiegel und konnte sich nicht richtig sehen. Sie rieb ihre Augen, zwinkerte, strengte sich an. Dann war sie auf einer Schulveranstaltung mit vielen Kindern; Julius war auch dort; sie versuchte, Fotos von ihm zu machen, sie fand ihn so entspannt und glücklich zwischen all den Kindern, doch plötzlich kam Pia und zerrte den Film aus Helens Kamera und zerriss ihn. Wer ein Bild besitzt, hat Macht über die Wirklichkeit. Du wurdest eine Ikone.
    Zeugenschaft und Deutungshoheit. Zwanzig Jahre Attentat, zwanzig Jahre Mauerfall. Das Ende der DDR , die letzten Monate vor dem Mauerfall, wurde in den Medien wieder und wieder erzählt. Auf der einen Seite kamen Bürgerrechtler, Künstler und » gewöhnliche« Menschen zu Wort, die über Ungarn und Prag in den letzten Monaten des Bestehens der DDR in die Bundesrepublik geflohen waren; die Besetzer der Prager Botschaft, die mit Zügen das Land verließen, die ihre Pässe lachend aus den Fenstern warfen. Medien behaupteten, dass die » sanfte Revolution« nicht dem mutigen Vorgehen einzelner zu verdanken gewesen sei, sondern dass die lange im Kalten Krieg verfeindeten Machtblöcke USA und Sowjetunion auf die deutsche Wiedervereinigung hingearbeitet und den Mauerfall inszeniert hätten, um die Welt neu zu ordnen. Die Bevölkerung sei unterwandert und dazu benutzt worden, diesem Vorgang ein » menschliches Gesicht« zu verleihen. Eine These besagte, dass die Sowjetunion bereit gewesen sei, ihre Satellitenstaaten zu verkaufen, um sich vor dem Ruin zu bewahren. Ereignisse wurden aneinandergereiht, als wären sie mit einer schönen Zwangsläufigkeit auf das Ende des anderen deutschen Staates zugelaufen, von dem damals doch die meisten überrascht worden waren.
    Wir spielten Kalter Krieg. Helen dachte an die alten Herren, die ihre Kindheit verteidigten, es gab keine Ideologie.
    Einundzwanzig Jahre –
    Abschied ist ein fragmentierter Nachklang, alles fällt auseinander, ich bin der Körper, der alles zusammenhält – nicht mein Kopf. Meinen Kopf zersprengt es, all das Unvereinbare zu denken. Guten Morgen, lieber Julius, wie geht es dir? Heute Nacht habe ich geträumt, ich würde mit dir telefonieren. Ich hatte ein spezielles Handy dafür, eins mit einer Verbindung in den Himmel. Die mexikanische Kultur feiert den Tod als Übergang in ein anderes Leben, aber auch als Ausdruck der Freude über das Zerrissene, Verworrene, Unvereinbare. Brahms war ein extrem komplizierter Komponist; er wusste von solchen Dingen; Arnold Schönberg hat ihn als Vorläufer der atonalen Musik entdeckt, hast du das gewusst, lieber Herr? Er entwickle seine Werke aus winzigen Elementen, hat er geschrieben, und seine Harmonik sei zentripetal. Das Zentrum fliehend, so schreibe ich diese Geschichte. Sag mir eine andere Ordnung, die möglich wäre.
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