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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir
Autoren: Tanja Langer
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entweder Holzfäller oder Terrorist. Nein.
    In dem Augenblick, in dem Helen ihre Geschichte beenden will, erhält sie Nachricht aus der Birthler-Behörde, die inzwischen Jahn-Behörde heißt. Die Akte » Nora« wartet auf sie. Noch einmal packt Helen Stullen ein, die Thermoskanne mit Tee, und macht sich auf den Weg in die zugige Karl-Liebknecht-Straße. Zeigt ihren Ausweis, fährt in den fünften Stock, hängt ihre Jacke in den abschließbaren Garderobenschrank, stellt ihre Tasche dazu, nimmt zuvor Block und Stifte heraus. Spricht mit ihrer Betreuerin, die kommt und sie begrüßt.
    Nora – ist ein Mann.
    » Nora ist stets bemüht, den Eindruck eines sehr einfältigen Menschen zu erwecken und die Konspiration zu wahren.« Allerdings tue er sich schwer, » mit einfachen Menschen Kontakt zu finden«. Er gilt als überheblich, schreibt nicht so gern Berichte, diktiert sie lieber. Er hat drei Kinder, eine modern eingerichtete Wohnung in Niederschönhausen, fährt einen Wartburg.
    Helen erfährt Noras Klarnamen und dass Nora lebt. Dass Nora eine Karriere an der Deutschen Handelsbank und als IM gemacht hat. Sie erfährt alles über seinen Verdienst, seine Auslandsreisen, seine Berichte über Mitarbeiter, die im Fall einer Sekretärin eine tödliche Konsequenz hatten. Helen blättert die Seiten um und liest, dass Nora in die Deutsche Außenhandelsbank eingeschleust wurde, um die Kader im Sinne der Partei zu kontrollieren; seit Beginn der Siebzigerjahre muss er sich als ideologischer Wachhund gegen eine » zu stark gewinnmögliche Orientierung« in der Bank durchsetzen. Nora wird ständig von anderen IM s begutachtet. Nora analysiert permanent die Kreditfähigkeit des Landes. Helen vergisst ihre Thermoskanne und die Stullen. In den Tagen, in denen sie diese Dinge liest, setzt die amerikanische Ratingagentur Moody’s fast täglich eine europäische Bank, wenn nicht ein ganzes Land in seiner Kreditfähigkeit herunter.
    Helen lernt Nora sehr gut kennen. Seit Mitte der Achtzigerjahre bearbeitet Nora Mitarbeiter der Deutschen Aufbau, die Namen sind alle geschwärzt. Über einen von ihnen sagt Nora: » Wenn er das Angebot des IM s angenommen hätte, zur Deutschen Handelsbank zu kommen, würde er heute noch leben.« Was soll das heißen? Wer soll das sein? Von einem anderen Herrn der Deutschen Aufbau zeigt Nora sich begeistert. Er bemerkt unter der Rubrik » Auftrag«: weiter abschöpfen. Sie treffen sich häufiger, in Ostberlin, aber auch im Westen. Nora erhält von diesem Mann wichtige Papiere über Fixzinssätze, Debt-Equity-Swaps und andere Themen. Dieser Mann stellt die Deutsche Aufbau als » weltoffen« dar, mit großem Interesse an einer guten Beziehung zur DDR : Der alte Vorstand sei nicht mehr, nun sei vieles möglich. Er betont seine eigene besondere Rolle bei der Vergabe eines Konsortialkredits sowie eines Kredits über 150 Millionen DM und kündigt weitere Besuche zum Jahreswechsel an. Who the fuck ist he? Helen treten Schweißperlen auf die Stirn. Nora gerät zunehmend in Konflikte zwischen dem, was er sieht, und der Linie, die er seit Jahrzehnten verteidigt hat.
    Ein besonders intensiver Kontaktmann sitzt in der Filiale der Deutschen Aufbau in Luxemburg. Er wird an einer Stelle als IM bezeichnet; Helen ist sich nicht sicher, ob es ein Versehen sein könnte, sein Name ist geschwärzt, zugleich wird dieser Mann ausgehorcht und auf einer Reise mit einem weiteren Vorstandsmitglied der Deutschen Aufbau – der Name ist geschwärzt – in einige Staaten des Ostblocks von Nora begleitet.
    Und schließlich liest Helen: Nora trifft Julius. Namentlich steht es da.
    Nora kennt Julius. Er hat Julius vielleicht gar nicht abgehört; er hat mit ihm telefoniert, er hat mit ihm gesprochen, vermutlich auch als leitender Mitarbeiter seiner Bank. Aber nicht nur; Nora wird sicher einige der Vermerke auf der Karteikarte gemacht haben. Sie sind sich also begegnet. Vielleicht haben sie sogar irgendwo zusammen gegessen. Einen Vorgang gibt es, wenige Wochen vor Julius’ Tod.
    Helen kann kaum mehr still sitzen. Ihr Atem wird hektisch.
    Nora, der bereits in den Neunzigerjahren enttarnt worden ist, hat eine Adresse in Berlin. Helen sucht sie zu Hause auf dem Stadtplan heraus und beschließt, am Wochenende hinzufahren. Nach drei Tagen der Lektüre ist Helen vollkommen erschöpft und überreizt. Am Abend des vierten Tags lernt sie bei einem Fest einen freundlichen älteren Mann kennen, der ihr erzählt, er habe in der Deutschen Außenhandelsbank
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