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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir
Autoren: Tanja Langer
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vorschmeckt, und er wird an ihren Zügen sehen, ob das Lied die Sängerin herausfordert und glücklich macht. Brahms kann es kaum erwarten, es zu hören. Nachklang heißt es, nach den Worten von Klaus Groth, Wenn die Sonne wieder scheinet , / Wird der Rasen doppelt grün: / doppelt wird auf meinen Wangen / mir die heiße Träne glühn.
    » Geben Sie uns bitte zwei Tage zum Einstudieren«, wird sie sagen, und dann wird er am andern Tag um den Garten herumschleichen und horchen. Liebe Frau Theres, wird er denken. Wie sie es versteht, sich der Melodie zu überlassen, wie sie sich leiten lässt, ein wenig hierhin sich biegt, ein wenig dort fortnimmt, ganz aus ihrem Empfinden heraus, sie wird mit ihrer vollen Stimme die Noten aushorchen und deuten.
    Brahms sieht aus dem Fenster. Der Himmel über Tutzing ist verhangen, ein kleiner Regen fällt, er mag dieses Wetter. Im Starnberger See spiegeln sich dann die Wolken. Er nimmt seine Pelerine und geht hinaus.
    Die Stimme, hast du oft gesagt, ich hör so gern deine Stimme, und ich ging auf, wenn ich deine hörte. Ich hörte sie schwingen, flüstern, erklären, lachen, halblaut, entschuldigend, niemals barsch oder unfreundlich, niemals kalt, manchmal verhalten, selten seufzen, ich hörte sie murmeln, zärtlich fragen, lächelnd etwas sagen, leise, energisch, heiser, ich hörte deine Wünsche und Sorgen, die Innenseite deiner Existenz, dort, wo du Brahms geliebt hast, die Verästelungen seiner Musik, seine von so viel klarer Intelligenz durchdrungene Gefühlswelt, wie du es einmal genannt hast, die vor allem in den Liedern erklang, im Regenlied, Komm bald, Schwermut und vielen anderen.
    Ein Baby kommt auf die Welt, es schreit, alle freuen sich, alles ist gut. Die menschliche Stimme ist ein Wunder.
    Hallo?
    und du, jungenhaft, liebenswürdig, frei –
    Helen! Wie schön, dich zu hören! Hast du es fein? Brauchst du etwas?
    4
    Du warst nicht sofort tot, wie ich es jahrelang geglaubt habe. Die Bombe, die die Limousine sprengte, traf die Hauptschlagader an deiner Hüfte. Eine extreme Blutung setzt in solchen Fällen ein. Du hast noch etliche Minuten gelebt. Du bist verblutet.
    Niemand ist dir zu Hilfe gekommen.
    Herr Lippens, selbst schwer verletzt, schaffte es irgendwie, aus dem Auto zu kommen.
    Die Sicherheitskräfte im Wagen hinter der Limousine sind dir nicht zu Hilfe gekommen. Sie haben gewartet, ob vielleicht noch eine Bombe hochgeht, sagten sie später. Es hat zwanzig Minuten gedauert, bis jemand nach dir gesehen hat, ob du noch lebst.
    Herr Lippens leidet noch heute darunter, dass er dich nicht aus dem Wagen gezogen hat. Er macht sich noch heute Vorwürfe, dass er nicht versucht hat, die Blutung zu stillen.
    Das Leben ist langsam in großen Mengen aus dir herausgelaufen. Es hat dich verlassen, vielleicht konntest du dabei zusehen. Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit. Sie sind nichts gegen diese zwanzig Minuten, in denen du in der zerstörten Limousine gestorben bist.
    Die Sicherheitskräfte wurden nicht wegen unterlassener Hilfestellung angeklagt. Warum? Der Minister, der für deine Sicherheit nicht genügend gesorgt hat, wurde nicht angeklagt. Er kam vor keinen Ausschuss zur Anhörung. Derjenige Unbekannte, der veranlasste, den zweiten Sicherheitswagen des Personenschutzes, der deine Limousine hätte begleiten sollen, abzuziehen, wurde weder gesucht noch zur Verantwortung gezogen. Eine solche Anweisung konnte nur von ganz oben gegeben werden.
    Niemand wurde dafür zur Verantwortung gezogen.
    Niemand musste gehen, weil er und seine Leute nicht bemerkt haben, dass der Boden der Straße, auf der du fast täglich entlanggefahren bist, geöffnet worden und ein Sprengkabel verlegt worden war.
    Es wäre laut medizinischen Gutachten kaum möglich gewesen, dich zu retten.
    Ich wünsche mir oft, du wärst sofort ohnmächtig geworden.
    Der damalige Minister sagte in einem Interview, zwanzig Jahre später, mit sanften, glaubwürdigen Augen: » Hinterher ist man immer schlauer. Vorher sagt man, es sei übertrieben, jedem Kinderwagen, jedem Fahrrad, jeder Baustelle nachzugehen. Hinterher sieht man, dass es falsch war.« Du hast immer gesagt, die meisten Fehler entstehen, weil die Menschen die Dinge nicht zu Ende denken.
    Jahrelang hatte ich ein schlechtes Gewissen, in der letzten Zeit unserer Freundschaft nicht genug für dich da gewesen zu sein.
    Ein Leben lang hatte Herr Lippens Schuldgefühle, dir nicht geholfen zu haben. Ich weiß es von Frau Osthaus. Sie sagte es mir am Telefon.
    Du
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