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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir
Autoren: Tanja Langer
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klein.
    Abschied ist ein fragmentierter Nachklang.
    Jonathan Kepler erzählte ihr, wie sie damals an seinen Schreibtisch getreten war. Der Kollege von den Anzeigen hatte ihn angerufen.
    » Setz dich«, hatte er gesagt.
    Helens Auftritt blieb ihm in Erinnerung. Er stand ihm so deutlich vor Augen, dass er fünfzehn Jahre später, als er etwas zu diesem Datum schreiben wollte, sofort an sie denken musste. Eine junge Frau, vermutlich Studentin, blass, mit kurzem blonden Haar, im schwarzen Pulli und Jeans, die vor ihm stand und mit zittriger Stimme verlangte, er dürfe in seinem Nachruf nichts Böses schreiben. » Ich will das nicht«, sagte sie. Ich bin verrückt, dachte sie, wie kann ich so etwas sagen?
    » Das würde ich gar nicht machen«, sagte Kepler, der bis vor wenigen Sekunden noch gar nichts von dieser Aufgabe gewusst hatte. Es war ja kaum über den Ticker; man hatte noch keine definitive Auskunft, dass Turnseck wirklich tot war.
    » Aber jetzt erzähl mir doch mal bitte, warum du ein Interesse daran hast?«
    » Du musst dir vielleicht einen schwarzen Mantel kaufen«, sagte Simon.
    Sie gingen in die Geschäfte in der Nähe. Sie kauften einen viel zu teuren Mantel aus schwarzer Wolle. Er hatte eine Art Schalkragen, die Schulterpartie war betont, ohne breit zu wirken; nach unten schwang er weit. Helen konnte nicht anders, sie musste sich um ihre eigene Achse drehen, um zu sehen, wie er schwang.
    » Du siehst schön darin aus«, sagte Simon, » der Mantel steht dir gut.«
    Es war der teuerste Mantel, den Helen sich jemals gekauft hatte und jemals kaufen würde. Als sie ihn später anzog, drückte der Schalkragen im Nacken so schwer, dass sie ihn nach kurzer Zeit wieder ausziehen musste. Sie verschenkte ihn.
    Der Flug nach Frankfurt.
    In Frankfurt in der Fußgängerzone der Blumenladen, in dem Helen die Rosen kaufte. Rosa Rosen, drei Stück. Liebe, Treue, Hoffnung. Kaum aus dem Laden, liefen ihr die Tränen aus den Augen. Mit einem Schleier vor den Augen, immerzu mit dem Taschentuch wischend, lief sie durch die menschenleere Innenstadt. Die Fußgängerzone war weiträumig abgesperrt an diesem Morgen. Hundert Meter um den Dom herum gab es eine Sperre, die sie passieren musste. Sie musste ihren Ausweis zeigen und ihren Namen nennen und warten, bis der Polizist ihn auf einer Liste gefunden hatte. Es war nicht weit, vom Bahnhof zum Dom. Helen kannte Frankfurt kaum. Die Kaiserstraße und die Fußgängerzone, durch die sie mehr als sieben Jahre zuvor gelaufen war, glücklich aufgeregt, an einem milden Tag im März, zwischen Winter und Frühling, auf dem Weg zu ihrem ersten Rendezvous mit Julius Turnseck, der zweiundfünfzig Jahre alt war und sie neunzehn.
    Ein Staatsbegräbnis war es nicht, aber eine Staatstrauerfeier. Sechshundert oder tausend Leute wurden erwartet, so hatte sie es am frühen Morgen in Berlin in den Nachrichten gehört, so hatte sie es auf dem Flughafen in der Zeitung gelesen.
    Wo würde sie sich hinsetzen? Wo sollte sie in der Kirche hin?
    Immer mehr schwarz gekleidete Menschen näherten sich still aus verschiedenen Richtungen dem Dom, den sie nun vor sich hatte. Das Backsteingebäude schien ihr nicht so groß, wie sie es erwartet hatte. Der Platz davor füllte sich allmählich. Sie war früh dran. Überall Polizei. Eine weitere Absperrung. Vor dem Eingang des Doms standen Leute von der Bank mit Gästelisten. Helen bekam einen trockenen Mund. Sie musste schlucken, bevor sie ihren Namen nennen konnte. Man nickte ihr zu. Eine Frau nahm sie am Arm und führte sie zur ersten Reihe in der Kirche, zur Familie. Helen bremste den Schritt, » das geht doch nicht«, sagte sie leise zu ihrer Begleiterin, » es steht so auf der Liste, kommen Sie«, erwiderte diese. Helen spürte schon die ersten Blicke auf sich gerichtet.
    Pia, die sie noch nie gesehen hatte, nur auf Julius’ Foto, in Schwarz, von einem Mann und einer jungen Frau stützend untergehakt. Sie kam sofort auf Helen zu und umarmte sie fest. » Du sitzt bei uns«, sagte sie, » keine Frage.«
    Das kleine Mädchen fehlte.
    » Wo ist Jessica?«, fragte Helen.
    » Ich wollte sie nicht mitbringen«, sagte Pia, » es würde sie erschrecken.«
    Helen hätte im Anschluss zu ihren Eltern fahren können, » komm doch«, sagte ihre Mutter, » wir trösten dich«.
    » Ich kann nicht«, sagte Helen, » ich kann nicht, sei mir nicht böse.«
    » Wir sind dir nicht böse. Wir machen uns Sorgen.«
    » Macht euch bitte keine Sorgen«, sagte Helen, und ihre Mutter
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