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Der Täuscher

Der Täuscher

Titel: Der Täuscher
Autoren: Jeffery Deaver
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vermied es angestrengt, irgendwo anders hinzusehen als in die Augen des Kriminalisten.
    Es gab zwei Reaktionen auf seine körperliche Verfassung, die Rhyme in Rage brachten: wenn Besucher zwanghaft so taten, als würde seine Behinderung nicht existieren, und wenn sie seinen Zustand zum Anlass nahmen, sich wie seine besten Freunde aufzuführen, Witze zu reißen und großspurig daherzureden, als wären sie alte Kriegskameraden. Judy fiel in die erste Kategorie. Sie wog jedes Wort sorgfältig ab, bevor sie es Rhyme schüchtern präsentierte. Dennoch gehörte sie irgendwie zur Familie, und er blieb ruhig, wenngleich er sich zwingen musste, nicht immer wieder das Telefon anzustarren.
    »Ja, ganz schön lange«, stimmte er ihr zu.
    Thom kümmerte sich um die gesellschaftlichen Höflichkeitsgesten, die Rhyme grundsätzlich vergaß. Er hatte Judy einen Kaffee angeboten, der nun als unberührtes Requisit vor ihr auf dem Tisch stand. Rhyme hatte ein weiteres Mal sehnsüchtig zu der Flasche Whisky geschaut, und Thom hatte ihn bedenkenlos ignoriert.
    Die attraktive dunkelhaarige Frau wirkte kräftiger und sportlicher als beim letzten Treffen - das ungefähr zwei Jahre vor Rhymes Unfall stattgefunden hatte. Judy riskierte einen Blick auf das Gesicht des Kriminalisten. »Es tut mir leid, dass wir nie hergekommen sind. Ehrlich. Ich hatte es fest vor.«
    Sie spielte damit nicht auf einen normalen Besuch vor dem Zeitpunkt seiner Verletzung an, sondern auf eine Beileidsbekundung danach. Wer eine Katastrophe überlebt hat, hört nicht nur die Worte eines Gesprächs, sondern ebenso deutlich das, was nicht gesagt wird.
    »Hast du die Blumen bekommen?«
    12
    Damals, nach dem Unfall hatte Rhyme die erste Zeit wie in Trance verbracht - die Medikamente, die schwere Verletzung und der psychische Kampf mit der unfassbaren Tatsache, dass er nie wieder würde gehen können. Er konnte sich an keine Blumen erinnern, zweifelte aber nicht daran, dass die Familie welche geschickt hatte. Viele Leute hatten das. Blumen sind einfach, Besuche sind schwierig. »Ja. Danke.«
    Schweigen. Ein unwillkürlicher, blitzschneller Blick auf seine Beine. Die Leute glauben, wenn du nicht laufen kannst, stimmt etwas mit deinen Beinen nicht. Nein, denen geht's bestens. Man kann ihnen bloß nicht mehr mitteilen, was sie tun sollen.
    »Du siehst gut aus«, sagte sie.
    Rhyme wusste nicht, ob das stimmte. Er hatte eigentlich noch nie darüber nachgedacht. »Wie ich gehört habe, bist du geschieden.« »Stimmt.« »Das tut mir leid.«
    Warum?, überlegte er. Aber das war ein zynischer Gedanke, und er quittierte ihr Mitgefühl mit einem Nicken. »Was macht Blaine denn jetzt?«
    »Sie hat wieder geheiratet und wohnt draußen auf Long Island. Wir haben kaum noch Kontakt. Das ist meistens so, wenn man keine Kinder hat.«
    »Weißt du noch, als ihr damals übers Wochenende nach Boston gekommen seid? Das war schön.« Ein Lächeln, das kein Lächeln war. Aufgemalt, eine Maske.
    »Ja, das war es.«
    Ein Wochenende in Neuengland. Ein Einkaufsbummel, eine Fahrt zum südlich gelegenen Cape Cod, ein Picknick am Wasser. Rhyme wusste noch, wie sehr ihm der Ort gefallen hatte. Beim Anblick der grünen Felsen am Strand war ihm ein plötzlicher Einfall gekommen, und er hatte beschlossen, die Datenbank des Kriminallabors der New Yorker Polizei um eine Sammlung der einheimischen Algenarten zu erweitern.
    Später war er dann noch eine ganze Woche kreuz und quer durch das Stadtgebiet gefahren, um überall Proben zu nehmen.
    Und auf der Fahrt zu Arthur und Judy hatten er und Blaine kein 13
    einziges Mal gestritten. Sogar die Rückfahrt, mit Übernachtung in Connecticut, war angenehm verlaufen. Er erinnerte sich daran, wie sie auf dem Balkon ihres Zimmers miteinander geschlafen hatten und der Duft des Geißblatts regelrecht überwältigend gewesen war.
    Bei diesem Besuch hatte er seinen Cousin zum letzten Mal gesehen. Danach hatten sie nur noch einmal kurz am Telefon miteinander gesprochen. Dann kamen der Unfall und die lange Stille.
    »Arthur hat viel Pech gehabt.« Sie lachte. Es klang verlegen. »Weißt du, dass wir nach New Jersey gezogen sind?«
    »Ach ja?«
    »Er war Dozent in Princeton. Aber man hat ihn entlassen.« »Was ist passiert?«
    »Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter und hatte anfangs ein Forschungsstipendium.
    Man beschloss, ihm keine volle Professorenstelle anzubieten. Art sagt, dahinter habe Interessenpolitik gesteckt. Du weißt ja, wie es in den Fachbereichen
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