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Der Täter / Psychothriller

Der Täter / Psychothriller

Titel: Der Täter / Psychothriller
Autoren: John Katzenbach
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Seite lag, das nahe Grollen und Klatschen der Wellen am Strand. Sie dachte, wenn sie einfach jeden Laut zuordnen, klassifizieren und abschätzen würde, dann könnte sie im Ausschlussverfahren das eine Geräusch ausmachen, das anders war, und dann hätten sie Simon Winter.
    Oder, dachte sie für einen Moment, den Schattenmann.
    Sie war dabei gewesen, als sich Walter Robinson wie ein Besessener in die Menschentraube vor dem Haus des Rabbi gestürzt und Fragen gebrüllt hatte.
    »Haben Sie einen alten Mann gesehen? Haben Sie einen Mann mit einem Messer gesehen?« Der Rabbi und Frieda Kroner hatten ihn begleitet und dabei wie zwei Simultanübersetzer in hohem Tempo und in mehreren Sprachen durcheinandergesprochen. Die Menschen, die den Detective umringten, hatten scheu und wie gebannt dagestanden, als hätte ihnen die unerwartete Gefahr die Sprache verschlagen, bis eine uralte Frau am Arm eines ebenso greisen Mannes zitternd ihre Hand gehoben hatte.
    »Ich«, hatte sie gesagt. »Ich habe was gesehen.«
    »Was?«, hatte Robinson sie gefragt.
    »Einen Mann. Keinen Mann mit einem Messer, aber einen großen Mann mit weißem Haar.«
    »Ja, ja, wo?«
    »Er ist gerannt«, erwiderte die alte Frau. Sie hatte den Arm gehoben, und Espy Martinez hatte gesehen, wie ihr knochiger Finger in der Luft zitterte, als kämpfte er gegen eine Böe, und Richtung Strand deutete. »Er ist da lang gelaufen, als jagte er den Teufel …«
    Sie konnte nicht mehr sagen, wie lange sie schon nach dem alten Detective suchten. Zehn Minuten, die ihr wie tausend erschienen. Eine halbe Stunde, die länger war als ein ganzer Tag. Es kam ihr so vor, als würde jede Minute, die verstrich, hämisch über ihre Suche spotten.
    »Theoretisch kann er hier überall sein.« Sie fluchte leise. »Wir wissen nicht mal, ob sie hier lang gekommen sind …«
    »Ich glaube schon«, antwortete Robinson, der immer noch den Scheinwerfer über den Strand und die Wellen dahinter schweifen ließ, während er den Kopf halb aus dem Streifenwagen steckte. »Wäre der Schattenmann nach Norden geflohen, wäre er den Lichtern der Innenstadt entgegengelaufen. Nein, das hier war seine Richtung – dahin, wo es dunkel war.«
    »Und Simon?«
    »Simon hat ihn verfolgt.«
    Espy Martinez holte tief Luft. »Es wird bald hell«, stellte sie fest. »Vielleicht finden wir ihn dann.«
    »Dann ist es zu spät«, antwortete Walter Robinson. Seine Hand umklammerte das Lenkrad. Er hätte am liebsten Vollgas gegeben und wäre über den Strand gejagt – alles, was ihm das Gefühl gegeben hätte, bei der Verfolgungsjagd dabei zu sein und nicht nur ziellos umherzuirren.
    Espy Martinez bemerkte Robinsons vorgeschobenes Kinn, sah, wie sich vor Frustration die Muskeln an seinen Unterarmen spannten. Sie fühlte sich hilflos wie ein Arzt am Bett eines unheilbar kranken Patienten. Sie wandte sich ab und horchte wieder auf die unterschiedlichen Geräusche. Eine ferne Sirene. Eine große Welle, die auf die Küste schlug. Ihr eigenes Herzklopfen in den Ohren.
    Und für einen Moment etwas Neues. Ein einziges kurzes Knacken, als würde jemand in einiger Entfernung auf einen trockenen Zweig treten – ein Geräusch, das die leichte Brise wie ein zartes Wispern an ihre Ohren trug.
    »Halt an!«, brüllte sie.
    »Was ist? Was ist? Hast du was gesehen?«
    »Hast du das gehört?«, fragte sie.
    »Was denn?«, erwiderte Robinson nach. »Was soll ich gehört haben?«
    Doch Espy Martinez hatte bereits die Tür aufgerissen und war von ihrem Sitz gesprungen, bevor das Fahrzeug zum Stehen gekommen war. Als sie mit den Füßen auf dem Sandweg landete, rief sie über die Schulter zurück: »Ein Schuss, ich hab einen Schuss gehört …« Robinson stoppte den Wagen und hastete hinterher.
     
    Simon Winter schaukelte auf den Wellen wie ein Kind in einer Wiege. Er spürte, wie ihm aus der Messerwunde in der Seite das Lebensblut sickerte, und hatte das Gefühl, als hüllte ihn eine unermessliche Wärme ein.
    Er dachte an Frieda Kroner und den Rabbi und sagte laut zu ihnen: »Ihr seid jetzt sicher. Ich habe getan, worum ihr mich gebeten habt.« Im selben Moment dachte er an seine alte Nachbarin Sophie Millstein, ich habe meine Schuldigkeit getan. Er hatte keinerlei Schmerzen, was ihn überraschte. Die vielen Toten, die er im Lauf der Jahre zu Gesicht bekommen hatte, schienen ihm grausam zugerichtet gewesen zu sein, und er hatte Gewalt grundsätzlich mit Schmerz assoziiert. Dass er sich jetzt nur ein wenig benommen und
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