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Der Stundenzaehler

Der Stundenzaehler

Titel: Der Stundenzaehler
Autoren: Mitch Albom
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flüsterte Victor.
    Dor schüttelte ratlos den Kopf: Der erste Mensch, der seine Tage gezählt hatte, wusste nicht, wie viele er angehäuft hatte.
    Er tat einen tiefen, mühsamen Atemzug.
    Und brach zusammen.

77
    Dor rang nach Luft, und seine Augen verdrehten sich. Er wurde von einer uralten Seuche heimgesucht.
    Sechstausend Jahre lang war er von der Vergänglichkeit verschont geblieben; der Planet war älter geworden, während Dor keinen einzigen Atemzug verbrauchte.
    Doch nun änderte sich diese Gleichung.
    Dor hatte die Welt angehalten. Und wenn die Welt nicht mehr alterte, dann tat er es. Seine Haut wurde fleckig, und sein Verfall schritt voran.
    Â»Was hat er?«, fragte Sarah.
    Â»Keine Ahnung«, antwortete Victor.
    Die Szenerie um sie her veränderte sich plötzlich.
    Die Zuschauer, die Halle, der Zylinder mit Victors Körper – all das verschwand so schnell, als verbrenne ein Foto im Feuer.
    Das Stundenglas schrumpfte auf normale Größe zusammen, der Sand füllte den oberen Kolben.
    Â»Wir müssen ihm helfen«, sagte Sarah.
    Â»Wie denn? Du hast seine Geschichte doch gesehen. Wie sollen wir ihm helfen können?«
    Du hast seine Geschichte doch gesehen .
    Â»Augenblick«, sagte Sarah und hob Dors Arm hoch. »Nehmen Sie den anderen«, trug sie Victor auf.
    Beide bedeckten ihre Augen mit Dors Händen. Und beide sahen dieselbe Szene:
    Dor beugte sich über seine Frau, die heftig schwitzte und deren Haut so fleckig war wie seine jetzt. Sie sahen, wie er ihre Wange küsste und die Tränen der beiden sich vermischten.
    Ich werde dein Leiden beenden. Ich werde allem Einhalt gebieten.
    Â» O mein Gott«, flüsterte Sarah. »Sie hatte dieselbe Krankheit.«
    Sie sahen, wie Dor zu Nims Turm rannte und seinen verzweifelten Aufstieg begann. Wurden Zeuge von dem, was man in ihrer Zeit als irrealen Mythos abtat: die Zerstörung des größten Bauwerks, das je von Menschenhand geschaffen wurde.
    Und sie sahen den einzigen Menschen, den Gott überleben ließ.
    Doch als sie Dor in der Höhle erblickten, wo er von dem Alten gefragt wurde Gelüstet es dich nach Macht? , ließen Victor und Sarah gleichzeitig Dors Hände los.
    Und blickten sich an.
    Â»Hast du ihn auch gesehen?«, fragte Victor.
    Sarah nickte. »Wir müssen ihn zurückbringen.«
    Normalerweise wären sich diese beiden Menschen niemals begegnet.
    Sarah Lemon und Victor Delamonte entstammten komplett unterschiedlichen Welten – hier Highschool und Fastfood, dort Sitzungssäle und weiße Tischtücher.
    Doch Schicksale können auf wundersame Weise verknüpft sein. Und in jenem Augenblick, in dem das Universum angehalten wurde, konnten nur diese beiden das Schicksal jenes Menschen verändern, der versucht hatte, ihrer beider Leben zu verändern.
    Sarah hielt das Stundenglas, während Victor den Boden des unteren Kolbens entfernte. Sie verstreuten den Sand, wie sie es bei Dor beobachtet hatten – diesmal jedoch den Sand der Vergangenheit –, aus dem unteren Teil.
    Danach bückten sie sich, um Dor gemeinsam aufzuheben.
    Â»Was wird aus uns, wenn das jetzt wirklich funktioniert?«, fragte Sarah.
    Â»Ich weiß es nicht«, antwortete Victor.
    Dor hatte sie beide aus der Welt entfernt.
    Ohne ihn konnten sie nicht erahnen, wohin ihre Seelen treiben würden.
    Â»Wir bleiben aber zusammen, oder?«, fragte Sarah.
    Â»Auf jeden Fall«, versicherte ihr Victor.
    Sie nahmen Vater Zeit hoch, betraten mit ihm den Sandpfad und schritten voran.
    Es gab keine Zeugen für die folgenden Ereignisse. Niemand vermochte zu sagen, wie viel Zeit dabei verstrich.
    Victor und Sarah gingen über den Sand der Vergangenheit, und ihre leuchtenden Fußspuren hefteten sich an ihre Sohlen.
    Als sie sich hügelabwärts bewegten, wich der Nebel, und man sah glitzernde Sterne am Firmament.
    Und dann schließlich, am Silvesterabend, standen ein junges Mädchen und ein alter Mann zwischen erstarrten Schneeflocken und reglosen Autos und Menschen unter einer Markise in der Orchard Street Nummer 143.
    Sie warteten.
    Die Tür öffnete sich.
    Und der Besitzer des Uhrenladens, jetzt in das weiße Gewand gekleidet, das er in der Höhle getragen hatte, sagte mit sanfter Stimme zu ihnen: »Bringen Sie ihn herein.«

78
    Sie betraten den Uhrenladen und legten Vater Zeit auf den Boden.
    Â»Wer ist er?«, fragte Victor den alten Mann.
    Â»Sein
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