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Der Stundenzaehler

Der Stundenzaehler

Titel: Der Stundenzaehler
Autoren: Mitch Albom
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fragte er.
    Dor deutete auf etwas, und die Szenerie veränderte sich.
    Sie befanden sich in einer riesigen Halle mit hohen Decken, in der, von weiß-silbrigem Licht angestrahlt, große Bildschirme in der Luft hingen.
    Auf jedem war Victor zu sehen.
    Â»Was zum Teufel ist das?«, fragte er.
    Auf den Bildschirmen wurden Szenen aus seinem Leben gezeigt.
    Er sah sich selbst mit Mitte dreißig bei der Begrüßung von Vorstandsmitgliedern in einem Sitzungssaal.
    Mit fünfzig bei einer Rede in London.
    Mit Mitte achtzig mit Grace beim Betrachten der CT-Ergebnisse.
    Menschenmengen blickten zu den Bildschirmen auf wie in einer Ausstellung.
    Vielleicht war er in der Zukunft zu einer Art Mythos geworden , überlegte Victor.
    Was war das?
    Ein medizinisches Wunder?
    Gehörte ihm dieses Gebäude womöglich?
    Doch woher stammten die Aufnahmen?
    Victor wusste, dass diese Szenen nicht gefilmt worden waren.
    Dann sah er sich plötzlich vor wenigen Wochen, wie er in seinem Büro stand und durchs Fenster auf einen Mann starrte, der gegenüber auf einem Wolkenkratzer saß.
    Â»Das waren Sie, nicht wahr?«, fragte er Dor.
    Â»Ja.«
    Â»Warum haben Sie zu mir herübergeschaut?«
    Â»Ich habe mich gefragt, wieso du dir mehr als ein Leben wünscht.«
    Â»Wieso denn nicht?«
    Â»Das ist nicht angenehm.«
    Â»Und woher wollen Sie das wissen?«
    Dor wischte sich die Stirn.
    Â»Weil ich es erlebt habe.«

75
    Bevor Victor etwas erwidern konnte, erhob sich ein Raunen in der Halle, die nun voller Zuschauer war.
    Die Leute saßen auf Stühlen oder lehnten an der Wand und reagierten vernehmlich auf die gezeigten Szenen.
    Man sah Bilder aus Victors Kindheit in Frankreich:
    Victor, wie er auf dem Schoß seiner Eltern saß.
    Wie er von seiner Großmutter mit dem Löffel gefüttert wurde.
    Wie er beim Begräbnis seines Vaters weinte und neben seiner Mutter betete.
    Mach, dass wieder gestern ist .
    Das Publikum raunte erschrocken, als er diese Worte aussprach.
    Â»Wieso schauen die sich mein Leben an?«, fragte Victor. »Und wo bin ich gerade?«
    Dor deutete auf einen großen Glaszylinder in der Ecke des Raums.
    Â»Was ist das?«, fragte Victor.
    Â»Schau es dir genauer an«, antwortete Dor.
    Victor näherte sich dem Zylinder, glitt mühelos wie ein Geist zwischen den Zuschauern hindurch.
    Dann blickte er in die Glasröhre.
    Und fuhr entsetzt zurück.
    Darin befand sich eine rosafarbene schrumplige Version seines Körpers. Die Muskeln waren verkümmert, die Haut mit Flecken wie von Brandwunden übersät. Der Kopf war über diverse Kabel mit zahlreichen Maschinen verbunden. Seine Augen waren offen, und ein gequälter Ausdruck lag auf seinem Gesicht.
    Â»Das kann nicht sein«, rief Victor aus. »Ich sollte wiederbelebt werden. Ich hatte Dokumente. Ich habe viel Geld bezahlt!«
    Victor erinnerte sich an die Warnung der Anwälte: Man kann sich nicht gegen alles absichern .
    Hatte er das in seiner Besessenheit leichtsinnig missachtet?
    Â»Was ist da passiert? Wer ist dafür verantwortlich?«
    Die Zuschauer gingen durch ihn hindurch und starrten auf seinen nackten Körper, als betrachteten sie Fische in einem Aquarium.
    Victor fuhr herum und rief: »Ich hatte Dokumente! Unterlagen!«
    Â»Die gibt es nicht mehr«, erwiderte Dor.
    Â»Ich habe Leute beauftragt, mich zu schützen.«
    Â»Gibt es auch nicht mehr.«
    Â»Und mein Vermögen?«
    Â»Weg.«
    Â»Es gab Gesetze!«
    Â»Jetzt gibt es andere Gesetze.«
    Victor sank in sich zusammen.
    Das sollte das Ergebnis seines großartigen Plans sein?
    Betrug?
    Demütigung?
    Eine futuristische Freakshow?
    Â» Was machen die da?«
    Â»Sie schauen sich deine Erinnerungen an.«
    Â»Warum?«
    Â»Um sich zu entsinnen, wie man etwas fühlt.«
    Victor sank auf die Knie.
    Er war es gewohnt, dass seine Einschätzungen immer zutrafen.
    Hatte er in seinem Leben keine kleinen Fehler gemacht, nur um am Ende den allergrößten zu begehen?
    Victor betrachtete die Menschen, die mit seiner persönlichen Geschichte beschäftigt waren. Sie wirkten jung und oft auch schön, aber leblos.
    Â»Jeder in dieser Zeit kann länger leben, als man das für möglich hielt«, erklärte Dor. »Die Menschen sind unentwegt in Aktion, aber innerlich sind sie leer.
    Für diese Menschen bist du ein Artefakt, und deine Erinnerungen stellen eine Kostbarkeit dar.
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