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Der Stundenzaehler

Der Stundenzaehler

Titel: Der Stundenzaehler
Autoren: Mitch Albom
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wir hier?«, fragte Victor. »Ist das die Zukunft?«
    Bevor Dor antworten konnte, öffnete sich die Tür der Lagerhalle, und Jed kam herein, gefolgt von Grace, die einen braunen Wintermantel trug. Sie bewegte sich zögernd, schaute sich nervös um.
    Â»Ist das Ihre Frau?«, flüsterte Sarah.
    Victor schluckte.
    Dass Grace irgendwann von seinem Plan erfuhr, war unvermeidlich. Doch Victor hätte nie vermutet, dass er Zeuge davon sein würde.
    Er sah, wie Jed auf den kleineren Behälter wies. Grace schlug die Hände vor den Mund. Victor konnte nicht ermessen, ob sie betete oder ihren Abscheu verbergen wollte.
    Â»In diesem Ding?«, fragte sie.
    Â»Er wollte es so.« Jed kratzte sich am Ohr. »Es tut mir leid. Ich hatte keine Ahnung, dass er Ihnen nichts davon gesagt hat.«
    Grace rang die Hände, unsicher, ob sie sich dem Behälter nähern oder zurückweichen sollte.
    Â»Kann man hineinschauen?«
    Â»Nein, das geht leider nicht.«
    Â»Aber seine Leiche ist da drin?«
    Â»Der Patient.«
    Â»Wie bitte?«
    Â»Wir sagen ›Patient‹. Nicht ›Leiche‹.«
    Â» Was ? «
    Â»Es tut mir leid. Ich kann mir vorstellen, wie schlimm das für Sie sein muss.«
    Ein paar Momente war nur das Surren von Geräten zu vernehmen. Schließlich räusperte sich Jed und sagte: »Gut … ich lasse Sie jetzt eine Weile alleine. Sie können gerne Platz nehmen.«
    Er wies auf die senffarbene Besucher-Couch. Victor schüttelte den Kopf, als wolle er Jed davon abhalten. Er schämte sich plötzlich – nicht nur wegen seines eigenen Handelns, sondern auch, weil man seiner Frau eine so schäbige Sitzgelegenheit anbot.
    Grace setzte sich nicht.
    Sie dankte Jed und sah ihm nach, als er den Raum verließ.
    Dann ging sie langsam zu dem Behälter und ließ ihre Finger über das Fiberglas gleiten.
    Ihr Mund öffnete sich. Sie seufzte tief und schien förmlich in sich zusammenzusacken.
    Â»Grace, es ist richtig so«, platzte Victor heraus. »Es ist nicht …«
    Grace schlug mit der Faust auf den Behälter.
    Zweimal.
    Und trat so fest mit dem Fuß dagegen, dass sie beinahe gestürzt wäre.
    Dann richtete sie sich kerzengerade auf, schniefte und marschierte an der senffarbenen Couch vorbei zum Ausgang.
    Die Tür fiel hinter ihr zu.
    Die Stille im Raum wirkte vorwurfsvoll.
    Dor und Sarah sahen Victor an, doch er wandte den Blick ab.
    Er fühlte sich bloßgestellt.
    In seinem Wahn, dem Tod entkommen zu wollen, hatte er Wissenschaftlern mehr vertraut als seiner Frau und ihr damit die Möglichkeit genommen, sich würdig von ihm zu verabschieden.
    Nicht einmal seine Leiche war ihr geblieben.
    Wie sollte sie nun um ihn trauern?
    Victor bezweifelte, dass Grace noch einmal an diesen Ort kommen würde.
    Er schaute Sarah an, die zu Boden blickte, als sei ihr etwas peinlich.
    Victor wandte sich zu Dor.
    Â»Nun zeigen Sie mir wenigstens, ob es funktioniert hat«, knurrte Victor.

74
    Es wimmelte von Menschen.
    Das war Victors erster Eindruck von der Zukunft.
    Sie waren dem Sandpfad wieder aufwärts gefolgt, und als der Nebel sich diesmal lichtete, befanden sie sich zwischen gigantischen Wolkenkratzern in einer Art Metropolis.
    Stählerne Blau-und Grautöne bestimmten das Bild, nur hier und da sah man grüne Tupfer von wenigen Pflanzen.
    Am Himmel sausten erstaunlich kleine Flugzeuge umher, und die Luft fühlte sich stickig und schmutzig an.
    Es war kalt, obwohl die Menschen nicht entsprechend gekleidet waren.
    Sie hatten größere Köpfe als früher und vielfarbige Haare.
    Männer und Frauen waren optisch nicht mehr voneinander zu unterscheiden.
    Nirgendwo waren alte Menschen zu sehen.
    Â»Sind wir noch auf der Erde?«, fragte Sarah.
    Dor nickte.
    Â»Dann habe ich es also geschafft?«, fragte Victor. »Ich lebe?«
    Dor nickte wieder.
    Sie standen auf einem großen Platz, inmitten Tausender von Menschen, die an ihnen vorübereilten und in dunkle Brillen oder andere Gerätschaften vor ihrem Gesicht zu sprechen schienen.
    Â»Wie weit in der Zukunft sind wir?«, fragte Sarah.
    Victor sah sich um. »Ich schätze mal, ein paar hundert Jahre weiter.«
    Er lächelte in sich hinein.
    Weil Victor das Leben nur an Scheitern oder Erfolg maß, hatte er jetzt das Gefühl, gewonnen zu haben.
    Er war dem Tod entkommen und in der Zukunft wieder aufgetaucht.
    Â»Und wo bin ich?«,
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