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Der Stundenzaehler

Der Stundenzaehler

Titel: Der Stundenzaehler
Autoren: Mitch Albom
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Sie erinnern sie an eine einfachere erfüllendere Welt, die es nicht mehr gibt.«
    Diese Vokabeln hätte Victor niemals auf sich selbst angewandt.
    Einfach?
    Erfüllend?
    War er nicht immer getrieben und unersättlich gewesen?
    Seit seinem Ausscheiden aus der bereits damals zeithungrigen Welt hatte sich also alles noch weiter beschleunigt.
    Und Victor verstand, dass Dors Einschätzung richtig war.
    In allen Szenen auf den Bildschirmen waren starke Gefühle zu sehen:
    Die Tränen des Jungen, als sein Essensbeutel auf dem Schiff gestohlen wurde.
    Das Lächeln, als Victor Grace im Aufzug kennenlernte.
    Sein ergriffener Blick, als sie am letzten Abend seines Lebens zu der Gala aufbrach.
    Diese Szene gab es jetzt zu sehen: er im Bett, Grace im Abendkleid.
    Ich beeile mich.
    Ich …
    Was denn, Liebling?
    Ich bin hier.
    Victor schaute seiner Frau nach, als sie hinausging, in dem Glauben, dass sie ihn später wiedersehen würde.
    Wie konnte ich so grausam sein? , fragte er sich jetzt.
    Plötzlich sehnte er sich heftig nach Grace.
    Und zum ersten Mal in seinem Leben als Erwachsener wollte er etwas rückgängig machen.
    Grace ging aus dem Zimmer, und die Zuschauer standen auf.
    Jetzt erschien der Glaszylinder auf den Bildschirmen, und mansah eine Träne auf Victors runzligem Gesicht.
    Und Victor spürte nun auch, wie ihm eine Träne über die Wange rann.
    Dor streckte die Hand aus und nahm die Träne auf seinen Zeigefinger.
    Â»Verstehst du jetzt?«, fragte er. »Wenn man endlos viel Zeit hat, gibt es keine Intensität mehr. Ohne Verlust, ohne Opfer, wird alles, was wir haben, wertlos.«
    Dor betrachtete die Träne und dachte an seine Zeit in der Höhle.
    Und nun endlich verstand er, weshalb man ihn auf diese Reise geschickt hatte:
    Er hatte eine Ewigkeit gelebt.
    Victor hatte nach einer Ewigkeit verlangt.
    All diese Jahrtausende hatte Dor gebraucht, um zu verstehen, was der Alte ihm sagen wollte. Und nun sagte er es Victor.
    Â»Es gibt einen Grund, warum Gott uns nur eine begrenzte Anzahl von Tagen zugesteht.«
    Â»Und warum ist das so?«
    Â»Damit jeder einzelne Tag kostbar ist.«

76
    Erst jetzt erzählte Vater Zeit seine Geschichte.
    Seine Stimme wurde rau und sein Husten stärker, während er Victor und Sarah die Welt schilderte, aus der er stammte.
    Er berichtete von dem Sonnenstab, den er erfunden hatte.
    Von der Wasseruhr aus Schalen.
    Von seiner Frau Alli und seinen drei Kindern.
    Und von dem alten Mann aus dem Himmel, der Dor aufgesucht hatte, als er noch ein Junge war, und der ihn später zu ewiger Gefangenschaft verdammte.
    Seinen beiden Zuhörern kam diese Geschichte höchst unwahrscheinlich vor, doch als Dor von Nims Turm erzählte, flüsterte Sarah »Babel«, und Victor murmelte »das ist doch nur ein Mythos«.
    Als Dor zu seiner Zeit in der Höhle kam, legte er Victor die Hand auf die Augen, so dass er die ewige Einsamkeit, die Qualen eines Daseins ohne das Vertraute – Frau, Kinder, Freunde, ein Zuhause – sehen konnte.
    Ein zweites Leben?
    Ein tausendstes?
    Was sollte das bringen?
    Â»Ich lebte«, sagte Dor, »aber ich war nicht lebendig.«
    Victor sah, wie Dor zu fliehen versuchte, wie er an die Felswände schlug, wie er in den leuchtenden Teich steigen wollte. Und er hörte das niemals endende Gewirr der Stimmen.
    Â»Was haben all diese Stimmen zu bedeuten?«, fragte er.
    Â»Unglück«, antwortete Dor.
    Und Dor erklärte, wie die Menschen seit Beginn der Zeitmessung die Fähigkeit verloren hatten, glücklich und zufrieden zu sein.
    Stets verlangten sie nach mehr Minuten, mehr Stunden, nach noch schnellerem Fortschritt, damit sie an jedem Tag noch mehr erreichen konnten. Die schlichte Freude am Leben zwischen zwei Sonnenaufgängen hatten sie eingebüßt.
    Â»Nichts, was der Mensch heutzutage tut, um möglichst erfolgreich seine Zeit zu füllen, befriedigt ihn noch«, erklärte Dor. »Es lässt ihn nur immer begieriger werden, noch mehr zu leisten. Der Mensch möchte seine Existenz als sein Hab und Gut betrachten. Doch niemand kann die Zeit besitzen .«
    Dor löste die Hand von Victors Augen.
    Â»Wenn man das Leben misst, lebt man es nicht. Ich weiß, wovon ich rede.«
    Er blickte unter sich.
    Â»Denn ich war der Erste, der das getan hat.«
    Seine Haare waren inzwischen schweißgetränkt, und er wurde immer bleicher.
    Â»Wie alt sind Sie?«,
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