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Der Stundenzaehler

Der Stundenzaehler

Titel: Der Stundenzaehler
Autoren: Mitch Albom
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nicht in unserer Hand.«
    Als Dor diese Worte aussprach, merkte er, dass er vielleicht so viele Jahrtausende hatte leben müssen, um diesen Augenblick zu erreichen.
    Er wusste besser als jeder andere Mensch auf Erden, wie es sich anfühlt, ohne Liebe zu leben.
    Je mehr Sarah über Einsamkeit sprach, desto klarer wurde Dor, weshalb er hier war.
    Â»Ich hab mich so blamiert«, jammerte sie.
    Â»Wer liebt, blamiert sich nicht.«
    Â»Aber er hat mich ja gar nicht geliebt.«
    Â»Auch das ist keine Blamage.«
    Â»Sagen Sie mir …« Ihre Stimme brach. »Wann hört es auf weh zu tun?«
    Â»Manchmal hört es nie auf.«
    Sarah sah den bärtigen Dor allein in der Höhle.
    Â»Wie haben Sie das geschafft?«, fragte sie. »So lange ohne Ihre Frau zu leben?«
    Â»Sie war immer bei mir«, antwortete er.
    Dor nahm die Hand von Sarahs Augen, und sie sahen zu, wie der graue Kombi die verschneite Straße entlangfuhr.
    Â»Du hattest noch so viele Jahre«, sagte Dor.
    Â»Ich wollte sie nicht.«
    Â»Aber die Jahre wollten dich . Zeit ist nichts, was man zurückgibt. Im nächsten Augenblick könnten deine Gebete erhört werden. Wenn man das nicht anerkennt, verleugnet man den wichtigsten Teil der Zukunft.«
    Â»Und welcher ist das?«
    Â»Hoffnung.«
    Wieder wurde Sarah von Scham und Trauer überwältigt. Tränen strömten ihr übers Gesicht, und sie vermisste ihre Mutter mehr denn je.
    Â»Es tut mir so leid«, schluchzte Sarah. »Es kam mir eben so vor … als sei alles zu Ende.«
    Â»Das Ende ist immer gestern. Nicht morgen.«
    Dor bewegte die Hand, und die Straße verwandelte sich in Sand. Der Himmel war mitternachtsblau und mit Sternen übersät.
    Â»Für dich gibt es noch viel zu tun in diesem Leben, Sarah Lemon.«
    Â»Wirklich?«
    Â»Möchtest du es sehen?«
    Sarah überlegte einen Moment. Dann schüttelte sie den Kopf.
    Â»Noch nicht.«
    Da wusste Dor, dass die Heilung begonnen hatte.

72
    Victor hatte die Szenen mitangesehen.
    Nun wusste er, warum Sarah so verstört und verletzlich wirkte, warum sie zitterte. Sie hatte versucht, sich wegen eines Jun gen das Leben zu nehmen (der Bursche schien ein echter Tauge nichts zu sein, fand Victor, doch er gestand sich ein, dass er inzwischen voreingenommen war, weil er Sarah mochte).
    Und Sarah hatte etwas erfahren, was Victor ihr schon vor langer Zeit hätte erklären können:
    Keine Liebe rechtfertigt ein solches Drama .
    Er bezweifelte, dass Grace sich seinetwegen das Leben nehmen würde, was er auch getan haben mochte; und sosehr er sie in seinem tiefsten Inneren auch liebte, plante er doch ein zweites Leben, in dem sie ihn nicht begleiten konnte.
    Eines verstand Victor allerdings immer noch nicht: Was es mit diesen Halluzinationen und der wahren Identität des Mannes aus dem Uhrenladen auf sich hatte.
    Seit ihrer ersten Begegnung hatte sich der Mann merklich verändert. Hinter der Ladentheke hatte er kraftvoll und gesund, beinahe unangreifbar gewirkt.
    Jetzt dagegen war er bleich und schwitzte stark, und sein Husten wurde ständig schlimmer.
    Victor dagegen hatte sich noch nie im Leben besser gefühlt – weshalb er auch glaubte, dass diese ganze Sache ein reines Produkt seines Geistes war. In seiner Situation erwachte man nicht einfach gesund und streifte dann durch die Zeit.
    Er beobachtete Dor, der sich über den Sand beugte und ihn durch die Finger rinnen ließ.
    Schließlich schaute Dor zu Victor auf.
    Â»Dir möchte ich auch etwas zeigen.«
    Victor wich zurück. Er hatte kein Interesse daran, die Welt zu sehen, die er hinter sich gelassen hatte.
    Â»Meine Geschichte ist ganz anders«, sagte Victor.
    Â»Komm.«
    Â»Sie wissen aber doch, dass ich einen Plan habe, oder?«
    Dor richtete sich wortlos auf, wischte sich Schweiß von der Stirn und blickte verwundert auf seine Hand. Dann schritt er auf dem ansteigenden Pfad weiter voran.
    Victor wandte sich zu Sarah um, die wegen der Ausblicke in ihr Leben noch immer ganz verstört wirkte.
    Jetzt war Victor derjenige, der sich Begleitung wünschte.
    Â»Kommst du?«, fragte er.
    Sarah setzte sich in Bewegung, und gemeinsam traten sie den Aufstieg an.

73
    Als der Nebel sich lichtete, befanden sie sich in der Lagerhalle der Kryonik-Firma.
    Die riesigen Fiberglasbehälter ragten auf wie Monumente. Einer von ihnen war kleiner und neuer als die anderen.
    Â»Was sehen
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