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Der Stundenzaehler

Der Stundenzaehler

Titel: Der Stundenzaehler
Autoren: Mitch Albom
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wird hinterrücks von einem dritten Kind attackiert. Nim, ein Junge, der viel größer und stärker ist, rammt Dor triumphierend das Knie in den Rücken.
    Â»Ich bin der König!«
    Die drei lachen.
    Und rennen weiter.
    Versuche, dir ein Leben ohne Zeitmessung vorzustellen.
    Das wird vermutlich misslingen. Du weißt den Monat, das Jahr, den Wochentag. An irgendeiner Wand bei dir zuhause oder im Armaturenbrett des Autos gibt es garantiert eine Uhr. Du hast Termine, einen Kalender, eine Verabredung zum Essen oder ins Kino.
    Und dennoch wird die Zeit um dich her nicht gemessen: Vögel kommen nicht zu spät. Ein Hund schaut nicht auf die Uhr. Hirsche regen sich nicht auf, dass sie einen Geburtstag vergessen haben.
    Nur der Mensch misst die Zeit.
    Nur der Mensch lässt die Stunde schlagen.
    Und deshalb leidet auch nur der Mensch unter einer lähmenden Angst, die kein anderes Lebewesen außer ihm erfahren muss.
    Die Angst, dass ihm die Zeit davonläuft.

3
    Sarah Lemon fürchtet, dass ihr die Zeit davonläuft.
    Als sie aus der Dusche kommt, rechnet sie. Zwanzig Minuten fürs Fönen, eine halbe Stunde für Make-up, eine halbe Stunde zum Anziehen, eine Viertelstunde Fahrzeit.
    Halb neun, halb neun!
    Die Zimmertür geht auf. Ihre Mutter, Lorraine.
    Â»Schatz?«
    Â»Anklopfen, Mom!«
    Â»Schon gut. Klopf, klopf .«
    Lorraine beäugt das Bett, auf dem zwei Jeans, drei T-Shirts und ein weißes Sweatshirt liegen.
    Â»Wo gehst du hin?«
    Â»Nirgendwohin.«
    Â»Triffst du dich mit jemandem?«
    Â»Nein.«
    Â»Das weiße Sweatshirt steht dir …«
    Â»Mom!«
    Lorraine seufzt. Hebt ein feuchtes Handtuch vom Boden auf und geht hinaus.
    Sarah wendet sich erneut dem Spiegel zu. Sie denkt an den Jungen. Quetscht die Fettröllchen an ihrem Bauch. Iiih .
    Halb neun, halb neun!
    Das weiße Sweatshirt wird sie ganz bestimmt nicht anziehen.

    Victor Delamonte fürchtet, dass ihm die Zeit davonläuft.
    Grace und er verlassen den Aufzug, betreten das gemeinsame Penthouse.
    Â»Gib mir deinen Mantel«, sagt Grace und hängt ihn in den Schrank.
    Es ist still. Victor stützt sich auf einen Stock, als er den Flur entlanggeht, vorbei an dem großen Ölgemälde eines französischen Meisters. Das vertraute Stechen im Unterleib. Er sollte ein Schmerzmittel nehmen. Victor betritt sein Studierzimmer mit dem großen Mahagonischreibtisch, den zahllosen Büchern und Urkunden an den Wänden.
    Der Arzt hat gesagt: Wir können nicht mehr viel tun. Was bedeutet das?, fragt sich Victor. Monate? Wochen? Naht sein Ende? Das kann doch nicht sein !
    Er hört das Klacken von Grace’ Absätzen auf den Fliesen. Hört, wie sie am Telefon eine Nummer eingibt. »Ich bin’s, Ruth«, sagt sie. Ruth ist ihre Schwester.
    Grace spricht mit gedämpfter Stimme. »Wir kommen gerade vom Arzt …«
    Victor sitzt allein an seinem Schreibtisch und widmet sich der Berechnung seines schwindenden Lebens. Ein tiefer Seufzer löst sich aus seiner Brust, als hätte ihn jemand fest gedrückt. Sein Gesicht verzerrt sich. Und seine Augen werden feucht.

4
    Wenn Kinder größer werden, wachsen sie ihrer Bestimmung entgegen.
    So war es auch bei Dor, Nim und Alli, den drei Kindern auf jenem Hügel.
    Nim wurde kräftig und breitschultrig …
    â€¦ und schleppte Lehmziegel für seinen Vater, einen Baumeister. Nim fand Gefallen daran, dass er stärker war als andere Jungen. Und Macht begann ihn zu faszinieren.
    Alli wurde sehr schön …
    â€¦ und ihre Mutter wies sie an, ihr dunkles Haar zu Zöpfen zu flechten und den Blick gesenkt zu halten, damit ihr Liebreiz nicht die unziemlichen Gedanken der Männer auf den Plan rief. Bescheidenheit wurde Allis Schutzmittel.
    Und Dor?
    Nun, Dor wurde zum Zähler der Dinge. Er markierte Steine, er schnitzte Kerben in Stöcke, er sammelte Zweige, Kiesel und alles andere, was sich zählen ließ. Oft versank er in Tagträumen und dachte über Zahlen nach, und seine älteren Brüder gingen ohne ihn zur Jagd.
    Dor rannte unterdessen mit Alli die Hügel hinauf, und sein Geist lief vorneweg und winkte ihm, damit er hinterherkam.

    Und dann, an einem heißen Tag, geschah etwas Seltsames.
    Dor, der nach unserer Zählweise nun ein Teenager war, saß auf der Erde und steckte einen Stab in den Boden. Die Sonne war hell und stark, und Dor bemerkte den Schatten des Stocks.
    Er legte
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