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Der Stundenzaehler

Der Stundenzaehler

Titel: Der Stundenzaehler
Autoren: Mitch Albom
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er die untere Schale beiseite und ritzte mit einem scharfkantigen Stein eine Linie in den Ton, um den Wasserstand zu markieren.
    Daran, so schloss er – an dieser Menge Wasser –, ließ sich die Zeit zwischen Dunkelheit und Licht ablesen. Von nun an würde niemand mehr für die Rückkehr des Sonnengottes beten müssen. Anhand dieser Wasseruhr würden die Menschen wissen, dass der Sonnenaufgang nahte, wenn die Wassermenge größer wurde. Nim irrte sich. Es gab keinen Götterkampf zwischen Tag und Nacht. Dor hatte beide in einer Schale eingefangen.
    Er goss das Wasser aus.
    Auch das entging Gott nicht.

10
    Sarah ist nervös.
    Sie trägt die schwarze Jeans, die noch warm ist vom Trockner, und hastet die Treppe hinunter. Bekommt es mit der Angst zu tun, als sie an einen Abend vor zwei Jahren denken muss. Eine ihrer seltenen Verabredungen. Sie war mit einem Jungen aus ihrem Mathekurs bei einem Schulball. Der Junge hatte schweißnasse Hände, und sein Atem roch nach Salzbrezeln. Am Ende ging er mit seinen Freunden nach Hause, und Sarah musste ihre Mutter bitten, sie abzuholen.
    Aber jetzt wird alles anders , spricht Sarah sich Mut zu. Das war ein sonderbarer Kindskopf, aber jetzt trifft sie sich ja mit einem Jungen, der schon fast ein junger Mann ist. Achtzehn und sehr beliebt. Jedes Mädchen an der Schule ist verrückt nach ihm. Schau dir nur sein Foto an ! Und er hat sich mit dir verabredet!
    Â»Wann kommst du wieder?«, fragt Lorraine, die auf der Couch sitzt. Ihr Weinglas ist fast leer.
    Â»Es ist Freitag, Mom.«
    Â»War ja nur eine Frage.«
    Â»Weiß ich noch nicht, okay?«
    Lorraine reibt sich die Schläfen. »Ich bin nicht dein Feind, Schatz.«
    Â»Hab ich auch nicht behauptet.«
    Sarah schaut auf ihr Handy. Sie darf nicht zu spät kommen.
    Halb neun! Halb neun!
    Sie zerrt ihren Mantel aus dem Schrank.
    Victor ist nervös.
    Er trommelt mit den Fingern auf dem Schreibtisch, wartet auf den Anruf aus der Rechercheabteilung. Grace meldet sich über die Gegensprechanlage.
    Â»Liebling? Hast du Hunger?«
    Â»Ein bisschen vielleicht.«
    Â»Wie wär’s mit etwas Suppe?«
    Victor starrt aus dem Fenster. Dieses Penthouse in New York ist eines von ihren fünf Domizilen. Die anderen befinden sich in Kalifornien, Hawaii, in den Hamptons auf Long Island und in der City von London. Seit seiner Krebsdiagnose ist er an keinem dieser Orte mehr gewesen.
    Â»Suppe ist gut.«
    Â»Ich bring sie dir.«
    Â»Danke.«
    Grace ist netter zu ihm seit der Diagnose – liebevoller und geduldiger. Seit vierundvierzig Jahren sind sie verheiratet. Doch seit zehn Jahren leben sie eher zusammen wie in einer Wohngemeinschaft.
    Victor greift zum Telefonhörer, um bei der Rechercheabteilung nachzufragen. Aber als Grace mit der Suppe hereinkommt, legt er wieder auf.

11
    Dor und Alli luden ihre wenigen Habseligkeiten auf einen Esel und zogen in Richtung Hochebene.
    Sie hatten beschlossen, ihre Kinder in der Obhut von Dors Eltern zu lassen, doch Alli war untröstlich. Sie zwang Dor zweimal dazu umzukehren, damit sie die Kinder noch einmal umarmen konnte. Als ihre älteste Tochter fragte: »Bin ich jetzt die Mutter?«, brach Alli schluchzend zusammen.
    Ihre neue Unterkunft war eine kleine Hütte aus Schilfgras, die kaum vor Wind und Regen schützte. Ohne Familie waren Dor und Alli aufeinander angewiesen. Sie bauten an, was dort gedeihen wollte, hielten Schafe und eine Ziege und gingen sparsam um mit dem Wasser, das sie vom weit entfernten Fluss holen mussten.
    Dor setzte seine Messungen fort und arbeitete mit Knochen, Stäben, Sonne, Mond und Sternen. Das war die einzige Tätigkeit, die ihm das Gefühl gab, etwas Sinnvolles zu tun. Alli zog sich immer mehr in sich selbst zurück. Eines Abends sah Dor, wie sie die Schlafdecke ihres Sohnes umklammerte und ins Leere starrte.
    Ab und an brachte Dors Vater den beiden Essen – auf Anweisung seiner Frau –, und dann berichtete er von Nims Turm, der aus gebrannten Ziegeln und Mörtel von den Quellen Shinars bestand und immer höher wurde.
    Nim sei schon hinaufgestiegen, hörten Dor und Alli, er habe einen Pfeil zum Himmel hochgeschossen und hinterher behauptet, Blut habe an der Spitze geklebt, als er wieder herunterfiel. Das Volk neigte sich vor Nim und glaubte, er habe die Götter verwundet. Bald würden er und seine besten Krieger die Wolken erreichen, besiegen, was immer sie
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