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Der Stundenzaehler

Der Stundenzaehler

Titel: Der Stundenzaehler
Autoren: Mitch Albom
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schloss die Augen. Sie sah nicht, wie Dor mit den Tränen kämpfte.

14
    Sarah spricht mit der Zeit. »Vergeh nicht so schnell«, sagt sie.
    Sie huscht zur Tür hinaus und eilt die Straße entlang. Denkt an den Jungen mit den kaffeebraunen Haaren. Stellt sich vor, wie er sie mit einem leidenschaftlichen Kuss begrüßt.
    Als Sarah sich noch einmal umdreht, sieht sie, wie im Schlafzimmer ihrer Mutter das Licht angeht, und läuft noch schneller. Ihrer Mutter ist es zuzutrauen, dass sie das Fenster aufreißt und ihr hinterherruft. Wie viele junge Mädchen empfindet Sarah ihre Mutter als ausgesprochen peinlich. Sie redet zu viel und ist zu stark geschminkt. Wenn sie nicht gerade damit beschäftigt ist, Sarah zurechtzuweisen – Geh aufrecht! Kämm deine Haare! –, beklagt sie sich bei Freunden über Sarahs Vater, der nicht einmal mehr im selben Bundesstaat lebt. Tom hat dies getan, Tom hat jenes vergessen. Tom bezahlt den Unterhalt immer zu spät. Früher haben Mutter und Tochter sich besser verstanden, aber seit einiger Zeit sind beide ratlos im Umgang miteinander. Und über Jungs will Sarah ganz bestimmt nicht mit ihrer Mutter reden (wobei es da bislang ohnehin nicht viel zu besprechen gab).
    Halb neun, halb neun!
    Sarahs Handy meldet sich.
    Sie zerrt es aus ihrer Jackentasche.

    Victor spricht mit der Zeit. »Vergeh nicht so langsam«, sagt er.
    Eine Stunde ist schon um. Victor ist an schnelle Ergebnisse gewöhnt. Dass sein Blick überall auf Zeitmessgeräte fällt, ist auch keine Hilfe. Vor ihm steht eine Tischuhr. Auf dem Computerbildschirm kann er die vergehenden Sekunden zählen. Sein Handy, das Telefon auf dem Schreibtisch, der Drucker, der DVD -Player geben die Zeit an. In einem Holzrahmen an der Wand kann er auf drei Uhren die Zeit in New York, London und Peking ablesen; an diesen Orten befinden sich die Hauptniederlassungen eines weiteren Unternehmens, das Victor gehört.
    Insgesamt gibt es in seinem Studierzimmer neun Geräte, die das Vergehen der Zeit messen.
    Das Telefon klingelt. Endlich. Er nimmt ab.
    Â»Ja?«
    Â»Ich schicke ein Fax.«
    Â»Gut.«
    Victor legt auf. Grace kommt herein.
    Â»Wer war das?«
    Â»Ging um die Sitzungen morgen«, lügt er.
    Â»Musst du teilnehmen?«
    Â»Warum nicht?«
    Â»Ich dachte nur …«
    Grace verstummt. Nickt. Trägt das Geschirr in die Küche.
    Das Faxgerät piept, und Victor starrt darauf, während es Papier ausspuckt.

15
    Dor lag neben seiner Frau am Boden. Die Sterne erschienen am Himmel.
    Seit Tagen hatte Alli nichts mehr gegessen. Schweiß rann ihr von der Stirn, und sie atmete schwer.
    Bitte verlass mich nicht , dachte Dor. Ein Leben ohne Alli konnte er sich nicht vorstellen. Nur mit ihr konnte er sprechen. Nur sie lächelte ihn an. Sie bereitete ihre kargen Mahlzeiten zu und bot ihm stets den ersten Bissen an, obwohl er darauf bestand, dass sie zuerst essen sollte. Aneinandergeschmiegt betrachteten sie den Sonnenuntergang. Mit Alli in den Armen einzuschlafen erschien Dor wie seine letzte Verbindung zur Menschheit.
    Seine Zeitmessungen und Alli waren der Inhalt seines Lebens. Und so war es gewesen, seit er denken konnte – seit ihrer gemeinsamen Kindheit.
    Â»Ich will nicht sterben«, flüsterte sie.
    Â»Du wirst nicht sterben.«
    Â»Ich will bei dir sein.«
    Â»Du bist bei mir.«
    Sie hustete Blut. Er wischte es weg.
    Â»Dor?«
    Â»Meine Liebste?«
    Â»Bitte die Götter um Beistand.«

    Dor kam ihrem Wunsch nach. Er blieb die ganze Nacht wach.
    Er betete, wie er noch nie zuvor gebetet hatte. Bislang hatte er nur an Maße und Zahlen geglaubt. Doch nun flehte er die höchsten Götter an – jene, die über Sonne und Mond herrschten –, allem Einhalt zu gebieten, die Welt im Dunkeln zu belassen, die Wasseruhr zum Überlaufen zu bringen. Wenn dies geschähe, würde Dor genügend Zeit bleiben, um den Asu aufzusuchen, der seine geliebte Alli heilen konnte.
    Dor schwankte vor und zurück.
    Â»Bitte, bitte, bitte, bitte, bitte …«, flüsterte er immer wieder und schloss dabei die Augen, um seinen Worten mehr Wahrhaftigkeit zu verleihen. Doch als er die Lider ein wenig anhob, erblickte er, wovor er sich gefürchtet hatte: das erste Licht am Horizont. Das Wasser stand bereits an der Kerbe für den nächsten Tag. Seine Messungen waren korrekt, und er verfluchte sein Wissen und die Götter, die ihn im Stich
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