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Der Stundenzaehler

Der Stundenzaehler

Titel: Der Stundenzaehler
Autoren: Mitch Albom
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musst verstehen, welche Folgen das Zählen der Augenblicke hat.«
    Â»Wie?«, fragte Dor.
    Â»Indem du dem Leid lauschst, das daraus entsteht.«
    Der Alte hielt die Hand über den Tränenteich, der nun zu leuchten begann. Rauchwölkchen erschienen auf der Oberfläche.
    Verstört und verwirrt beobachtete Dor das Geschehen. Er wollte nur eines – seine Alli wiederhaben, doch sie blieb verschwunden.
    Mit erstickter Stimme flüsterte er: »Bitte lass mich sterben. Ich möchte, dass alles zu Ende ist.«
    Â»Darüber hast du nicht zu bestimmen«, erwiderte der Alte. »Auch das wirst du lernen.«
    Er legte die Hände aneinander und begann zu schrumpfen, bis er nur noch so groß wie ein kleiner Junge war, dann so groß wie ein Kleinkind. Schließlich erhob er sich in die Luft wie eine Biene.
    Â»Warte!« schrie Dor. »Wie lange muss ich hierbleiben? Wann kommst du wieder?«
    Die kleine Gestalt war bereits oben an der Höhlendecke angelangt. Spaltete den Fels. Aus diesem Spalt fiel ein einziger Wassertropfen.
    Â»Wenn der Himmel die Erde berührt«, antwortete der Alte.
    Und verwandelte sich zu nichts.

18
    In den naturwissenschaftlichen Fächern war Sarah Lemon ein As.
    Und was habe ich davon ?, fragte sie sich oft. In der Schule zählte nur, wie beliebt man war, und das lag vor allem am Aussehen. Das war aber genau das Problem. Wenn Sarah, für die jede Biologieklausur ein Kinderspiel war, vor dem Spiegel stand, war sie mit ihrem Anblick ausgesprochen unzufrieden: Ihre nussbraunen Augen standen zu weit auseinander, ihre Haare waren trocken und wellig, zwischen den Schneidezähnen hatte sie eine Lücke, und die Speckröllchen, die sie sich nach der Trennung ihrer Eltern angefuttert hatte, war sie nicht mehr losgeworden. Obenherum hatte sie genügend zu bieten, fand Sarah, dafür aber untenherum zu viel. Außerdem hatte eine Freundin ihrer Mutter gesagt, Sarah würde »bestimmt einmal hübsch werden«, was wohl eher kein Kompliment war.
    Im letzten Jahr der Oberschule war Sarah Lemon siebzehn Jahre alt und wurde von den meisten ihrer Altersgenossen als zu klug und zu sonderbar oder als beides zugleich betrachtet. Der Unterricht stellte keine Herausforderung für sie dar; sie setzte sich absichtlich ans Fenster, weil sie mit der Langeweile zu kämpfen hatte. Deshalb zeichnete sie häufig nebenbei Porträts von sich selbst mit Schmollschnute, und schirmte sie mit dem Ellbogen ab, um sie vor ihren Nachbarinnen zu verbergen.
    In den Pausen blieb sie für sich, ging nach der Schule alleine nach Hause und verbrachte die Abende zuhause in Gesellschaft ihrer Mutter, sofern Lorraine nicht ausging, um sich mit den schnatternden Freundinnen zu treffen, die Sarah als »den Scheidungsklub« bezeichnete. Sarah aß dann alleine vor dem Computer.
    Sie war die drittbeste Schülerin ihrer Klasse und hatte bereits einen Zulassungsantrag für eine nahe gelegene Universität gestellt – die einzige Uni, die Lorraine sich leisten konnte.
    Dieser Antrag hatte Sarah zu dem Jungen geführt.
    Er hieß Ethan.
    Ethan war groß und schlaksig, hatte verträumte Augen und dichtes kaffeebraunes Haar. Er war auch in der letzten Oberschulklasse und immer umschwärmt von guten Freunden beiderlei Geschlechts. Gehörte der Leichtathletikmannschaft an. Spielte in einer Band. In der Astronomie einer Oberschule wäre Sarah niemals in seine Umlaufbahn geraten.
    Doch samstags entlud Ethan Essenslaster für ein Obdachlosenheim – wo auch Sarah arbeitete, weil sie für ihre Unibewerbung einen Bericht über eine »gemeinnützige Tätigkeit« vorlegen musste. Da sie auf diesem Gebiet bislang keinerlei Erfahrungen aufzuweisen hatte, war sie in dem Heim vorstellig geworden, wo man sie mit Freuden angenommen hatte. Sie hielt sich allerdings am liebsten in der Küche auf und füllte den Haferbrei in Schalen, weil sie sich zwischen den Obdachlosen ziemlich fehl am Platz fühlte (eine Oberschülerin mit Daunenjacke und iPhone? Was sollte sie zu diesen Menschen sagen außer »tut mir leid für Sie«?).
    Doch dann erschien Ethan auf der Bildfläche. Er fiel ihr gleich an seinem ersten Arbeitstag auf, als er neben dem Laster stand – sein Onkel besaß einen Lebensmittelhandel –, und er bemerkte sie, weil sie die einzige andere Person in seinem Alter war. Als er einen Karton auf den Küchentresen stellte,
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