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Der Stundenzaehler

Der Stundenzaehler

Titel: Der Stundenzaehler
Autoren: Mitch Albom
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dort erwartete, und fortan von dort oben herrschen.
    Â»Er ist ein starker, mächtiger König«, sagte Dors Vater.
    Dor blickte unter sich. Wegen Nim mussten sie in der Verbannung leben. Nims wegen konnte Dor seine Kinder nicht mehr umarmen. Dor dachte daran zurück, wie Nim, Alli und er auf den Hügeln herumgerannt waren. Für ihn war Nim immer noch der Junge, der stets der Stärkste sein wollte.
    Â»Danke für das Essen, Vater«, sagte Dor.

12
    Â»Dor. Besuch.«
    Alli stand auf. Ein altes Paar näherte sich zu Fuß. Viele Monde waren vergangen, seit Dor in die Verbannung geschickt worden war – nach unserer Zeitrechnung über drei Jahre –, und Alli freute sich über die Gesellschaft anderer Menschen. Sie begrüßte den Mann und die Frau und bot den beiden trotz ihrer eigenen Armut etwas zu essen und Wasser an.
    Dor war stolz auf die Gastfreundschaft seiner Frau. Doch der Zustand der Besucher bereitete ihm Sorgen, denn sie sahen krank aus. Ihre Augen waren wässrig und rot unterlaufen, und auf ihrer Haut zeichneten sich dunkle Flecken ab. Als er einen Augenblick mit Alli alleine war, sagte er warnend: »Berühre die beiden nicht. Ich fürchte, sie haben eine schlimme Krankheit.«
    Â»Aber sie sind arm und einsam«, widersprach Alli. »Sie haben sonst niemanden. Behandle sie so mildtätig, wie wir es uns auch von anderen wünschen würden, wären wir in ihrer Lage.«
    Alli servierte den Gästen Gerstenfladen, Gerstenpaste und ein wenig Ziegenmilch und lauschte ihrer Geschichte. Auch die beiden waren aus ihrem Dorf verbannt worden, weil man sie wegen der dunklen Flecken auf ihrer Haut für verflucht hielt. Sie lebten nun als Nomaden in einem Zelt aus Ziegenhäuten, zogen umher auf der Suche nach Essbarem und warteten auf den Tag, an dem sie sterben würden.
    Die alte Frau weinte während ihrer Erzählung, und Alli weinte mit ihr. Sie wusste, wie es sich anfühlte, seinen angestammten Platz in der Welt zu verlieren, und hielt der alten Frau den kleinen Becher hin, damit sie daraus trinken konnte.
    Â»Danke«, flüsterte die Frau.
    Â»Trink«, sagte Alli.
    Â»Deine Güte …«
    Die runzligen Hände der alten Frau zitterten, als sie Alli in die Arme schloss. Alli streichelte ihr die Wange und spürte, wie sich ihrer beider Tränen mischten.
    Â»Friede sei mit euch«, sagte Alli.
    Als die beiden aufbrachen, steckte Alli der Frau einen Beutel mit den letzten Gerstenfladen zu. Dor prüfte den Stand seiner Wasserschale und sah, dass nur noch die Länge eines Fingernagels fehlte bis zum Sonnenuntergang.

13
    Bevor man die Jahre misst, zählt man die Tage.
    Und davor zählt man die Monde. In der Verbannung hatte Dor begonnen, die Mondphasen aufzuzeichnen – Vollmond, Halbmond, Viertelmond, kein Mond. Die Sonne sah jeden Tag gleich aus, doch der Mond ließ sich messen, hatte er festgestellt. Dor ritzte Zeichen in Lehmtafeln, und irgendwann bemerkte er ein Muster. Dieses Muster war das, was man später »Monat« nennen würde.
    Jedem Vollmond ordnete Dor einen Stein zu, und die Mondphasen dazwischen vermerkte er mit Kerben. So erschuf er den ersten Kalender.
    Nun waren alle Tage mit einer Nummer versehen.
    Bei der fünften Kerbe des dritten Steins hörte er Alli husten.
    Und kurz darauf ging es ihr so schlecht, dass sie sich beim Husten krümmte.
    Anfangs versuchte sie noch, ihre täglichen Aufgaben wie gewohnt weiter zu erledigen. Doch bald war sie so geschwächt, dass sie eines Tages beim Zubereiten der Mahlzeit stürzte. Dor bestand darauf, dass sie sich auf ein Fell legte. Allis Stirn war schweißbedeckt; ihre Augen waren rot und tränten. Dor bemerkte einen dunklen Fleck an ihrem Hals.
    Innerlich war er wütend. Er hatte Alli aufgefordert, die Fremden nicht zu berühren, aber sie hatte nicht auf ihn gehört. Nun hatten die beiden ihren Fluch weitergegeben. Dor wünschte, sie wären nie zu ihnen gekommen.
    Â»Was sollen wir tun?«, fragte Alli.
    Dor tupfte ihre Stirn mit dem Fell ab. Er wusste, dass sie einen Asu, einen Medizinmann, aufsuchen konnten, der Alli Wurzeln oder eine Salbe gegen die Krankheit geben würde. Doch die Stadt war zu weit entfernt für Alli, und er würde sie nicht alleine lassen. Hier auf der Hochebene war auch niemand, der ihnen helfen konnte.
    Â»Schlaf«, flüsterte Dor. »Bald wird es dir besser gehen.«
    Alli nickte und
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