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Der Stundenzaehler

Der Stundenzaehler

Titel: Der Stundenzaehler
Autoren: Mitch Albom
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des Arztes.
    Wir können nicht mehr viel tun.
    Aber er muss irgendetwas tun.

6
    Dor und Alli wurden vermählt.
    An einem milden Herbstabend standen sie vor einem Altar. Geschenke wurden überreicht. Alli trug einen Schleier. Dor goss ihr Duftwasser über den Kopf und sprach: »Sie ist meine Gemahlin. Ich will ihren Schoß mit Gold und Silber füllen.« So gestaltete man die Zeremonie damals.
    Ein warmes, beruhigendes Gefühl durchströmte Dor, als er diese Worte sprach – Sie ist meine Gemahlin –, denn schon seit ihrer gemeinsamen Kindheit war Alli wie der Himmel für ihn, stets allgegenwärtig. Niemand außer Alli konnte ihn vom Zählen abhalten. Niemand außer Alli konnte ihm Wasser vom großen Fluss bringen, sich zu ihm setzen und eine liebliche Melodie summen, und dann trank er und merkte nicht mehr, wie lange er nachgedacht hatte.
    Nun waren sie verheiratet.
    Das machte ihn glücklich. Als an diesem Abend der Mond zwischen den Wolken auftauchte und im ersten Viertel stand, prägte Dor sich dieses Bild ein, das Licht des Abends, an dem sie vermählt wurden.
    Dor und Alli bekamen drei Kinder.
    Einen Sohn, eine Tochter und dann noch eine Tochter. Sie wohnten mit Dors Eltern in der Hütte seines Vaters, neben drei weiteren Hütten aus Flechtwerk und Lehm. Damals lebten Eltern, Kinder und Enkel alle unter einem Dach zusammen. Erst wenn ein Sohn es zu einem gewissen Wohlstand brachte, zog er mit seiner Familie in eine eigene Hütte.
    Dor jedoch brachte es nie zu Wohlstand.
    Er füllte Allis Schoß niemals mit Gold und Silber. All die Ziegen, Schafe und Ochsen gehörten seinen Brüdern oder seinem Vater, der Dor nicht selten wegen seiner sinnlosen Messungen einen Klaps an den Kopf gab. Dors Mutter weinte, wenn sie ihren Sohn bei seinen Berechnungen sah. Sie glaubte, dass die Götter ihm keine Kraft gegeben hätten.
    Â»Warum kannst du nicht mehr wie Nim sein?«, fragte sie.
    Nim war ein mächtiger Herrscher geworden.
    Er war reich und besaß viele Sklaven. Und er hatte mit dem Bau eines gewaltigen Turmes begonnen. Manchmal kamen Dor und Alli mit ihren Kindern daran vorbei.
    Â»Hast du wirklich mit ihm gespielt, als du noch ein Kind warst?«, fragte ihr kleiner Sohn.
    Dor nickte, und Alli hakte sich bei ihrem Mann unter. »Und dein Vater konnte schneller rennen und besser klettern.«
    Dor lächelte. »Aber deine Mutter war schneller als wir alle zusammen.«
    Die Kinder lachten und umklammerten die Beine ihrer Eltern. »Wenn euer Vater das behauptet, muss es stimmen«, sagte Alli.
    Dor zählte die Sklaven, die an Nims Turm arbeiteten, zählte sie, bis ihm die Zahlen ausgingen. Und sann darüber nach, wie unterschiedlich Nims Leben und sein Leben geraten waren.
    Später an diesem Tag markierte Dor mit Zeichen auf einer Tontafel den Weg der Sonne am Himmel. Als die Kleinen mit seinem Werkzeug spielen wollten, nahm Dor sachte ihre Hände beiseite und küsste die Finger seiner Kinder.
    Es ist nicht überliefert,
    doch im Laufe der Jahre probierte Dor jede Form von Messung aus, deren Erfindung die Wissenschaft später anderen zuschrieb.
    Lange vor den ägyptischen Obelisken fing Dor Schatten. Lange vor den griechischen Klepsydren maß Dor das Wasser.
    Er erfand die erste Sonnenuhr.
    Er schuf die erste Uhr.
    Sogar den ersten Kalender.
    Â»Seiner Zeit voraus«, sagen wir heute dazu.
    Dor war jedermann voraus.
    Man bedenke das Wort »Zeit«.
    Es gibt so viele Redewendungen, in denen es vorkommt: Zeit verbringen. Zeit vergeuden. Zeit totschlagen. Zeit verlieren.
    Beizeiten. Höchste Zeit. Zeit lassen. Zeit sparen.
    Lange Zeit. Rechtzeitig. Zeitlos. Zeitig. Freizeit. Zeit einhalten. Zeit schinden.
    Es gibt so viele Wörter zum Thema ›Zeit‹ wie Minuten an einem Tag.
    Einstmals gab es keine solchen Worte. Solange man nichts zählte.
    Doch dann begann Dor damit.
    Und alles veränderte sich.

7
    Eines Tages, als seine Kinder schon so groß waren, dass auch sie auf Hügeln umherrannten, bekam Dor Besuch von König Nim, seinem Freund aus Kindertagen.
    Â» Was ist das?«, fragte Nim.
    Er griff nach einer Schale, die mit einem kleinen Loch im Boden versehen war.
    Â»Ein Maß«, antwortete Dor.
    Â»Nein, Dor.« Nim lachte. »Das ist nur eine nutzlose Schale. Schau dir doch dieses Loch an. Was man hineinschüttet, wird gleich wieder hinauslaufen.«
    Dor widersprach nicht. Wie auch?
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