Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der stumme Tod

Der stumme Tod

Titel: Der stumme Tod
Autoren: Volker Kutscher
Vom Netzwerk:
eben im Radio gesagt. Ich glaube nicht, dass er weit kommen wird.«
    »Warum macht er so was? In den Vernehmungen schweigt er, als habe er sich schon aufgegeben, und dann so was!«
    »Vielleicht hat er wirklich schon mit allem abgeschlossen und will einfach nur irgendwo in Ruhe sterben.«
    »Meinst du, er hätte deswegen so viel Insulin gestohlen?«
    »Ich weiß nicht«, sagte sie, »ich weiß nur eins: Dass du jetzt ganz dringenden und persönlichen Schutz brauchst.«
    Während sie noch sprach, war sie zu ihm unter die Decke gekrochen. Und küsste ihn noch einmal.
    Rath schloss die Augen, und ein Mann huschte vorbei, grinste ihn an und verschwand wieder. Scheiß auf dich, Grinsemann, dachte Rath. Charly ist hier. Bei mir!

Kapitel 64
    Es hat geschneit in der Nacht, der Schnee hat ein weißes Tuch über die Welt gelegt und ihr wenigstens für einen Augenblick
    die Unschuld zurückgegeben. Von hier oben sieht die Stadt aus, als sei sie aus einem weißen Kristall gewachsen.
    Ein schönes Bild. Ein schönes letztes Bild.
    Der Wind pfeift kalt hier oben und sticht mit Nadeln in sein Gesicht, aber er spürt es kaum. Der Mann neben ihm zittert. Seitdem er ihm die Pistole gegeben hat, spricht er nicht mehr und zittert nur noch.
    Der Mörder schweigt, weil er verstanden hat: Wenn er schießt, stürzen sie beide in die Tiefe, ganz gleich, wen die Kugel trifft. Dafür sorgen die Handschellen, mit denen sie aneinander gefesselt sind. Den Schlüssel hat er vorhin weggeworfen, kaum hatten sie ihren Platz auf der Brüstung eingenommen. Er meint sogar das leise Pling gehört zu haben, als das Metall hundert Meter tiefer auf das Dach des Restaurants traf.
    Das entsetzte Gesicht des Mannes, den er an sich gekettet hat, im Moment des Begreifens.
    Dass hier zwei Tote auf der Brüstung sitzen, denen niemand mehr helfen kann.
    Das will er ihm nicht ersparen, die Gewissheit, den Tod vor Augen zu haben, einige quälend lange Minuten zu wissen, dass das Ende hier und jetzt gekommen ist. Unausweichlich.
    Die ganze Nacht hat er warten müssen, und als der Mörder vor einer halben Stunde unten am Lietzensee endlich aus einem Auto stieg, noch trunken von der Nacht, und in den Lauf einer Pistole blickte, hat er noch nicht geahnt, was ihn erwartet. Er hat seine Geldbörse gezückt, aber schnell gemerkt, dass es nicht um Geld geht.
    Mit der Pistole in der Manteltasche hat er den Mörder vor sich hergetrieben, bis zum Funkturm und in den Aufzug. Der Aufzugwärter hat nichts gemerkt und sie oben auf der Aussichtsetage aussteigen lassen.
    »Da habense sich aber nicht das beste Wetter ausgesucht«, hat er noch gesagt, bevor er die Tür wieder geschlossen hat.
    Als der Aufzug wieder auf dem Weg nach unten war, haben sie sich einen Moment schweigend gegenübergestanden, bevor er den Mörder die Treppe hochgetrieben hat, nach oben auf die Plattform, in den Wind und in die Kälte. Oben hat er die Handschellen aus der Tasche gezogen und auf die Brüstung gezeigt. Der Mörder wusste immer noch nicht, warum, aber er hat das Geländer erklommen, zitternd vor Angst und Kälte und plappernd, pausenlos plappernd, um die eigene Angst zu übertönen. Und er hat sich hingesetzt, die Knie nach außen, die Hände um den Handlauf gekrallt, bis die Knöchel ganz weiß geworden sind.
     
     
    Ein Mörder mit Todesangst. Plappernd wie ein Kind.
    Er hat einen Moment auf die weißen Handknöchel geguckt, während er den Kolben der Spritze ganz hinunterdrückte. Nur für sich eine Spritze, das reicht aus, der Mörder soll seinen Tod bei vollem Bewusstein erleben. Dann hat er sich neben den Mann gesetzt und die Handschellen klicken lassen und sich das Geplapper angehört.
    »Was wird denn das hier? Das ist gefährlich! Schickt dieser Rath Sie? Glauben Sie ja nicht, dass Sie mich mit solch krummen Methoden einschüchtern können.«
    Seit er die Pistole in den Händen hält, redet der Mörder nicht mehr. Er hat die Bedeutung dieser Geste verstanden: Selbst eine Pistole kann dir nicht mehr helfen!
    Victor Meisner wird sterben in den nächsten Minuten, weil Wolfgang Marquard das so will, und er ist selbst mit einer Pistole machtlos, etwas dagegen zu tun.
    Unten fahren Polizeiautos vor. Haben sie seine Fährte also wieder aufgenommen. Hat der Fahrstuhlführer doch etwas gemerkt.
    Umso besser! Sollen sie es alle sehen!
    Es ist gleich so weit, die Schmerzen sind vorüber. Er spürt den feinen Schweißfilm auf der Haut. All seine Muskeln entspannt, völlig locker, er ist
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher