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Der stumme Tod

Der stumme Tod

Titel: Der stumme Tod
Autoren: Volker Kutscher
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der mit einer einzigen Silbe alles kaputt gemacht hatte und nun aufstand, seine Kopfhörer über den Stuhl hängte und ins Licht trat, ein drahtiger Mann, die Krawatte nachlässig gebunden, die Hemdsärmel nach oben geschoben. Eben noch hatte er so laut gebrüllt, dass alle zusammenfuhren, jetzt klang seine Stimme samtig weich.
    »Du hast die letzten Worte in die falsche Richtung gesprochen, Betty, mein Engel«, sagte er. »Die Mikrofone haben dich nicht drauf.«
    »Die Mikrofone, die Mikrofone! Ich kann das nicht mehr hören, Jo! Das hat doch mit Film nichts mehr zu tun!« Ein kurzer Seitenblick zum Tonmeister reichte, um den Mann an den Knöpfen rot werden zu lassen. »Film«, fuhr sie fort, »Film, das ist Licht und Schatten, das muss ich dem großen Josef Dressler doch nicht erklären! - Mein Gesicht auf Zelluloid, Jo! Ich wirke doch nicht über die ... Mikrofone!«
    Sie legte eine Betonung auf das letzte Wort, dass es sich anhörte, als spreche sie von einer neu entdeckten, besonders ekelhaften Insektenart.
    Dressler holte tief Luft, bevor er antwortete. »Ich weiß, dass du deine Stimme nicht brauchst, Betty«, sagte er, »aber das war die Vergangenheit. Mit diesem Film beginnt deine Zukunft! Und die Zukunft spricht!«
    »Blödsinn! Es gibt so viele, die lassen sich nicht verrückt machen, die drehen noch richtige Filme. Ohne Mikrofone. Meinst du, der große Chaplin irrt? Wer weiß denn schon, ob der Sprechfilm nicht nur eine Mode ist, der im Moment alle hinterherlaufen und die bald wieder vergessen sein wird?«
    Dressler schaute sie erstaunt an, als sei es nicht sie, die da gesprochen habe. »Ich weiß es«, sagte er, »wir alle hier wissen es. Und du weißt es auch. Der Tonfilm ist wie geschaffen für dich, du bist wie geschaffen für den Tonfilm. Der sprechende Film wird dich wirklich groß machen. Du musst nur eines tun: daran denken, in die richtige Richtung zu sprechen.«
    »Denken! Wenn ich eine Rolle spiele, muss ich sie leben!« »Sicher. Lebe deine Rolle. Aber sprich dabei in Victors Richtung - und hol erst zum Schlag aus, wenn du deinen Dialog zu Ende gebracht hast.«
    Betty nickte.
    »Und schlag nicht so fest wie in den Proben, du musst ihn nur berühren. Die Ohrfeige soll man nicht hören, nur den Donner.« Alle lachten, auch Betty. Der Ärger war verraucht, die Stimmung wieder gelöst. Das konnte nur Jo Dressler. Betty liebte ihn dafür.
    »Also: alles auf Anfang, wir machen das gleich noch mal!«
    Der Regisseur war zu seinem Platz zurückgekehrt und setzte sich die Kopfhörer auf. Betty nahm wieder ihre Position an der Tür ein, Victor blieb am Kamin stehen und stellte nur sein Gesicht auf Anfang. Während hinter den Kulissen noch hektische Betriebsamkeit herrschte, nutzte sie die Zeit und konzentrierte sich auf ihre Rolle. Eine Hotelangestellte, die ihrem Chef zuliebe eine Millionärstochter spielt und sich mit den Folgen herumschlagen muss, empört über die Unterstellungen, die ihr dieser dahergelaufene Hochstapler an den Kopf geworfen hat. Dieser Hochstapler, den sie am Ende der Szene noch küssen würde - und der in Wahrheit kein Hoch-, sondern ein Tiefstapler war.
    Ton und Kamera liefen wieder, im Atelier wurde es still wie in einer Kirche vor dem Segen.
    Die Klappe zerhackte die Stille. »Liebesgewitter dreiundfünfzig, die Zweite!« »Uuund bitte«, hörte sie Dressler sagen.
    Victor legte los mit seinen Unverschämtheiten, und sie steigerte sich wieder in ihre Wut hinein. In ihre Filmwut. Sie wusste genau, wo die Kamera stand, immer wusste sie das, und doch konnte sie so agieren, als gebe es kein gläsernes Auge, das jede ihrer Bewegungen festhielt.
    Sie hatte ihre Position am Kamin erreicht und giftete Victor an.
    Ein dickes Mikrofon hing genau über seinem Kopf, sie versuchte es ebenso zu ignorieren, wie sie die Kameras ignorierte, sie musste nur mit Victor sprechen, dann sprach sie auch ins Mikrofon, es war ganz einfach, Jo hatte recht. Sie merkte, dass sie gut war. Wenn Victor jetzt nicht patzte, womit leider immer zu rechnen war, hätten sie die Szene gleich im Kasten. Sie registrierte den Blitz, er kam zum richtigen Zeitpunkt. Dann ließ sie sich von ihrem eigenen Rhythmus tragen, zählte langsam rückwärts, während sie die letzten Worte der Szene sprach.
    »Reicht Ihnen das als Antwort?« Jetzt.
    Genau jetzt die Ohrfeige.
    Sie spürte, wie sie sein Gesicht traf. Nun hatte sie doch zu fest zugeschlagen! Na, Victor würde es schon überleben. Umso realistischer würde ihr Streit
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