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Der stumme Tod

Der stumme Tod

Titel: Der stumme Tod
Autoren: Volker Kutscher
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gezeigt.
    Fasching!
    Allein schon dieses Wort!
    Aber so nannten sie das hier, Fasching. Rath ahnte, was ihn da erwartete. Kostümzwang, Weinzwang, Gutelaunezwang, Ichliebedichzwang, Wirgehörenaufewigzusammenzwang.
    Das missglückte Telefonat hatte ihn unbarmherzig daran erinnert, was das mit Kathi wirklich war: eine Silvesterbekanntschaft, die es viel zu weit ins neue Jahr geschafft hatte.
    Er hatte sie erst kurz vor Mitternacht kennengelernt, zusammen hatten sie auf das neue Jahr angestoßen und sich, beide schon recht angeschickert, spontan geküsst. Gemeinsam waren sie dann zur Bowleschüssel gegangen, an der irgendein Schlauberger jedem, der es nicht hören wollte, alle Hoffnungen auf das neue Jahrzehnt schon gleich zu Beginn zerstörte, indem er behauptete, das sei doch noch gar nicht das neue Jahrzehnt, da müsse man sich noch gedulden, das beginne erst mit dem Jahr 1931, mathematisch korrekt sei 1930 vielmehr das letzte Jahr der Zwanziger.
    Rath hatte den Kopf geschüttelt und die Bowlegläser nachgefüllt, während Kathi dem mit Missionsdrang gesegneten Mathematiker fasziniert gelauscht hatte. Er hatte sie regelrecht wegzerren müssen von der Nervensäge, zurück auf den Dachgarten, wo die Festgesellschaft das Feuerwerk am Nachthimmel über Charlattenburg bestaunte, und in eine dunkle Ecke, in der er sie wieder küsste, während um sie herum die Leute lachten und grölten und die Feuerwerksraketen pfiffen und krachten. Er küsste sie heftig, bis sie einen kurzen spitzen Schrei ausstieß, einen Schmerzensschrei. Ihre Lippe blutete, und sie schaute ihn für einen Moment so überrascht an, dass er schon eine Entschuldigung formulierte. Doch dann lachte sie und zog ihn wieder zu sich.
    Sie hielt es für Leidenschaft, doch eigentlich war es Wut, eine unbenennbare Aggression, die sich Bahn brach und an einer Unschuldigen austobte, auch später, als sie ihn mit in ihr kleines Dachzimmer genommen hatte und er sich austobte, als habe er hundert Jahre keine Frau mehr gehabt.
    Sie nannte es Liebhaben.
    Und seine Wut nannte sie Leidenschaft.
    So missverständlich wie alles, was danach kam, ihre Liebe, wie sie es nannte, das, was da zwischen ihnen war, für das er keinen Namen fand, das angefangen hatte mit Feuerwerk und Zukunftswünschen und dennoch keine Zukunft hatte, von Anfang an nicht. Geahnt hatte er das schon während der ersten Küsse, als Alkohol und Hormone jegliche Bedenken beiseitefegten, gewusst hatte er es spätestens am Neujahrsmorgen, als sie ihm mit verliebtem Blick frischen Kaffee ans Bett gebracht hatte.
    Über den Kaffeeduft hatte er sich zunächst gefreut. Dann hatte er ihr verliebtes Gesicht gesehen.
    Er hatte den Kaffee getrunken und sie müde angelächelt.
    Seine erste Lüge. Die erste von vielen, die folgen sollten. Ohne dass er lügen wollte, ja, ohne dass er manchmal überhaupt wusste, dass er gerade log. Mit jedem Tag war seine Lüge größer geworden, mit jedem Tag unerträglicher. Er hätte es ihr schon längst sagen müssen.
    Ihre Stimme, die vorhin aus dem Hörer drang, ihr so gezwungen fröhliches Gerede über den Faschingsball, über Verabredungen und Vergnügen und Kostüme und sonstiges belangloses Zeug hatten ihm die Augen geöffnet. Es war Zeit, endgültig Zeit, das Ganze zu beenden.
    Nur nicht am Telefon. Und ganz bestimmt nicht am Diensttelefon. Rath hatte zu Gräf hinübergeschielt, zu dem konzentriert durch irgendeine Akte blätternden Kriminalsekretär, und hatte Kathi kurzerhand ins Uhlandeck bestellt. Zum Reden.
    "Was willst du am Ku'damm, wir müssen nach Schöneberg«, hatte Gräf gefragt, ohne von seiner Akte aufzublicken.
    "Du fährst nach Schöneberg.«
    Rath hatte seinem Kriminalsekretär die Wagenschlüssel gegeben und sich am Uhlandeck absetzen lassen. Kathi arbeitete ganz in der Nähe.
     
    Und ließ sich dennoch nicht blicken.
    Rath schlug die Kriminalistischen Monatshefte wieder auf, in denen er gelesen hatte, bevor der Kellner kam. Kriminalrat Gennat, sein Chef am Alex, berichtete dort über die spektakulären Ermittlungen in Düsseldorf, eine grauenhafte Serie unaufgeklärter Morde, bei denen Gennat und ein paar handverlesene Berliner Kollegen der örtlichen Kriminalpolizei auf die Sprünge helfen sollten. Rath hatte es abgelehnt mitzukommen, obwohl er wusste, dass er den Buddha mit dieser Absage enttäuschte und seine eigene Karriere damit ausbremste: Von Gennat ausgewählt zu werden war eine Auszeichnung, etwas, das man nicht so einfach ablehnte. Aber selbst
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