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Der Strom, der uns traegt

Der Strom, der uns traegt

Titel: Der Strom, der uns traegt
Autoren: Rinus Spruit
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alt war, hatte sie beim Strümpfestricken geseufzt: »Diese Strümpfe werden meine letzten sein, ich werde sie nicht auftragen.«
    Opa, Onkel Bram, Onkel Merien und Vater hatten immer die niederdrückende Sorge gehabt: Der Mutter ist es nicht gut, die Mutter ist kränklich, die Mutter wird nicht alt werden. Sie litten sogar unter einer unbestimmten Art Schuldgefühl. Denn womit hatten sie es verdient, so gesund zu sein, während ihre Frau und Mutter derart leiden musste?
    Während Opa nach Onkel Meriens Tod noch störrischerund stiller geworden war, hatten Omas Klagen zugenommen. Sie schleppte ihren Körper wie eine Last mit sich herum, lag tagsüber viel im Alkoven, und alle, die sie besuchten, mussten sich anhören: Mir ist es nicht gut, mir ist es gar nicht gut. Ihr Kopf, ihr Rücken. Ein allgemeines Unwohlsein. Es wurde immer schlimmer. Die Flaschen mit Medizin, egal welche Farbe sie hatten, halfen nichts.
     
    War es wegen der getrennten Töpfe, der Rindfleischsoße, dem größten Ei, dass Oma einfach weiterlebte? Oder lag es daran, dass sie süchtig nach Klagen war und deshalb das Leben nicht loslassen wollte? Oma war schon neunundachtzig Jahre alt, klein und krumm und lebte immer noch in ihrem Häuschen an der einsamen Kreuzung. Vater schaute morgens vor der Arbeit immer kurz bei ihr vorbei und abends, auf dem Rückweg, noch einmal. Im Winter machte er den Kohlenofen an, und bevor sie ins Bett ging, brachte er noch eine Wärmflasche vorbei. Im Winter des Jahres 1963 schien das Ende ihres Lebens dann doch nah zu sein. Sie war verwirrt, wusste nichts, wusste weder, wie viel Uhr es war, noch welcher Tag, und strickte auch am Sonntag, was sie sonst nie getan hatte. Sie vernachlässigte sich und verkümmerte, aß kaum noch und ließ den Ofen ausgehen, sodass sie sich neben dem kalten Ofen verkühlte.
    Es war Mutter, die sagte: »So geht es nicht länger, sie soll zu uns ziehen, ins Hinterzimmer, lange wird essowieso nicht mehr dauern.« In unserem Hinterzimmer begann Oma ein zweites Leben.
    Mutter hatte das Zimmer mit Möbeln aus Omas Haus eingerichtet, Oma merkte nicht einmal, dass sie nicht mehr zu Hause wohnte. Sie fing wieder an, besser zu essen, mühelos schlang sie mit ihrem zahnlosen Mund große Mengen Essen in sich hinein. Ihre zahnlosen Kiefer schafften alles. Nur selten zog sie demonstrativ eine harte Brotrinde aus dem Mund und legte sie neben ihren Teller. Ihre seeländische Tracht wurde von Mutter der Bequemlichkeit halber nach und nach etwas vereinfacht. Ihre Mieder verschwanden, dafür bekam sie eine graue Strickjacke. Sie behielt ihre langen Röcke, aber die große Haube verschwand, sie behielt nur die kleine Haube, die Untermütze. Zum Glück. Hätte man Oma die kleine Haube weggenommen, wäre das ihr baldiges Ende gewesen. Seit ihrer Geburt war sie nie ohne Kopfbedeckung gewesen. Sogar nachts trug sie eine Schlafmütze.
    Wir, die Kinder, waren froh, dass Oma da war. Meine jüngere Schwester und ich gingen oft zu ihr. Wir machten dort unsere Hausaufgaben, lagen auf ihrem Bett und hörten uns ihre Geschichten von früher an. Und Oma erholte sich. Das Leben um sie herum tat ihr gut. Sie veränderte sich. Ihre melancholische Hypochondrie verwandelte sich in eine Art fröhlicher Demenz. Ihre Klagen machten einem Kichern Platz.
    In Omas Zimmer war immer Sonne. Es gab dort einezeitlose, friedvolle, sorgenfreie Atmosphäre. In ihrem bequemen Stuhl sitzend, die Brille auf der Nasenspitze, die Füße auf dem Elektrostövchen, verbrachte sie den ganzen Tag mit Stricken, Lesen und Dösen. Dabei hatte sie ihr großes rotes Bauerntaschentuch in der Hand oder in Reichweite. Das Taschentuch schien im Laufe der Zeit immer größer zu werden, aber das täuschte, es war Oma, die immer kleiner wurde. Nach der Schule erzählten wir Oma, was wir erlebt hatten, auch wenn wir wussten, dass sie alles gleich wieder vergessen würde. Sie hörte sich begierig unsere Geschichten an, die wir immer etwas übertrieben, und wir genossen ihre Äußerungen des Entsetzens oder des Tadels. »Das gibt’s doch nicht, das ist doch gemein, ach, du Armes, sei still, sei still!« Sie strickte mit einem Eifer, als würde sie sich damit den Himmel verdienen. Ihr ständiges Stricken unterbrach sie nur, um sich mit der langen Stricknadel zwischen Kleidung und Haut am Rücken zu kratzen. Das konnte sie sehr gut. Oma strickte Socken für die ganze Familie, aber manchmal strickte sie zwei Fersen in eine Socke oder eine seltsame Spitze am großen
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