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Der Strom, der uns traegt

Der Strom, der uns traegt

Titel: Der Strom, der uns traegt
Autoren: Rinus Spruit
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der Fuß weh, er hatte ein paar Schürfwunden und konnte gleich wieder nach Hause. Dem Autofahrer fehlte nichts.
    Opa fuhr noch am selben Nachmittag nach Goes ins Krankenhaus. Er nahm eine Tüte Äpfel mit. Als er zurückkam, hatte er gute Nachrichten, Merien hatte gleich in einen Apfel gebissen. Aber Tante Siene, die ihn abends besucht hatte, kam mit einer ganz anderenGeschichte zurück. Merien war unruhig gewesen, durcheinander. Kurze Zeit später kam der Dorfbote an die Tür. Das Krankenhaus hatte angerufen, sie sollten sofort kommen. Mit einem Taxi von der Autowerkstatt in Nieuwdorp ließen sich Opa, Oma und Vater zum Krankenhaus fahren. Sie fanden Onkel Merien ohne Besinnung vor. Er war unruhig, schnarchte. Manchmal redete er wirres Zeug. Der Arzt kam und sagte, es handle sich um eine Fettembolie. Durch den Knochenbruch war Fett aus dem Knochenmark in die Blutbahn geraten.
    »Sie bleiben besser hier«, hatte der Doktor gesagt.
     
    Endlos lange Stunden des Wartens.
     
    Onkel Merien starb frühmorgens. Am Sonntag, dem 29.   Juli 1936.   Er war 28   Jahre alt.

OPA
    Ich kann mich noch erinnern, wie Opa aussah, aber er ist für mich ein starres Bild geblieben. Ein großer, grober, mürrisch dreinblickender Mann.
    Ich kann mit seiner Erscheinung keine Situationen verbinden. Ich war noch zu klein.
    Nach Onkel Meriens Unfall war Opa noch schweigsamer geworden. Unwirsch, verbittert, in sich gekehrt. Er sprach nie über das, was passiert war. Über den Unfall, über das Motorrad, gegen dessen Anschaffung er sich so lange gewehrt hatte und das am Ende den Tod in die Familie gebracht hatte. Er fing an, noch schwerer zu arbeiten, als er es sowieso schon getan hatte. Reetdachdecken, Rohrdachdecken, Schweine schlachten, arbeiten bis zum Umfallen. Er war ausgebrannt. Er wollte seinen Kummer wegarbeiten. Er wurde noch sparsamer, fast geizig. Kämpfte gegen das Gespenst an, alt und arm enden zu müssen.
    Mein ältester Bruder hat mehr Erinnerungen an Opa.Er erzählte mir, dass Opa ihn regelmäßig bat, das Lied nach Psalm 81, Vers 11 für ihn zu singen.
Tue deinen Mund weit auf, lass mich ihn füllen.
Wenn mein Bruder gesungen hatte, so gut er konnte, holte Opa eine Münze aus der Tiefe seiner Hosentasche. »Danke«, sagte mein Bruder dann, woraufhin Opa böse fragte: »Danke, Schwein?« Und dann beeilte sich mein Bruder zu sagen: »Danke, Opa.«
    In einem alten Fotoalbum von Mutter fand ich ein kleines Bild, das ich aufmerksam betrachtete. Oma und Opa sind darauf zu sehen, zusammen mit meinem um ein Jahr älteren Bruder und mir. Oma und Opa sitzen auf der Türschwelle ihres Hauses. Oma schaut direkt in die Kamera. Sie trägt offenbar ihre Sonntagstracht. An beiden Seiten ihres Gesichts prunken die kleinen Kopfeisen wie goldene Rückspiegel. Opa ist schwarz gekleidet und hat eine Kappe auf. Mein Bruder sitzt zwischen Oma und Opa. Ich stehe zwischen Opas Knien. Ich nehme an, dass ich etwa vier Jahre alt war. Beim Betrachten des Fotos fallen Opas große Hände auf. Sie ruhen auf seinen Knien. Sie sehen wie Gartenwerkzeuge aus, wie Schaufeln. Auf dem Foto ist jede Hand von ihm größer als mein Kopf. Sein gegerbtes Gesicht ist wie versteinert. Obwohl   … Täusche ich mich? Oder versucht er zu lächeln? Es wird bei einem Versuch geblieben sein. Zum Glück. Ein Lachen hätte sein Gesicht zerrissen.
     
    1952, ein Jahr vor seinem Tod, bekam Opa einen Schlaganfall. Damals war er siebenundsiebzig Jahre alt. Erst sah es schlimm aus, aber er erholte sich. Er ist mit seinem bis auf die Knochen abgemagerten Körper sogar noch einmal nach Middelburg geradelt, um bei der Amsterdamse Bank die Coupons seiner Schuldbriefe abzutrennen. Kurze Zeit später bekam er jedoch einen weiteren Schlaganfall. Nach einigen Tagen im Krankenbett ist er dann zu Hause gestorben. Im Wohnzimmer, in einem schmalen Bett. Es war an einem Nachmittag im November. Oma lag im Alkoven, denn ihr war es
nicht gut
. Vater saß an Opas Bett. Er ging zum Alkoven und sagte: »Mutter, der Vater ist gestorben.« Oma sagte: »Dann werde ich wohl aufstehen.«

OMA
    Onkel Merien war tödlich verunglückt, Opa war gestorben und Onkel Bram und Vater hatten geheiratet und waren ausgezogen. Oma war jetzt allein. Niemand hatte erwartet, dass sie Opa überleben und alt werden würde. Sie war ja kränklich. Stöhnend und klagend war sie durchs Leben gegangen und hatte ihren geplagten Körper den Ärzten präsentiert, bis diese sich erschöpft zurückzogen. Als sie fünfzig Jahre
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