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Der Spion, der aus der Kälte kam

Titel: Der Spion, der aus der Kälte kam
Autoren: John le Carré
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sah ihn nicht an, als er einstieg. Sie starrte bewegungslos geradeaus die Straße hinunter in den fallenden Regen.
    »Fahren Sie mit dreißig Stundenkilometern«, sagte der Mann. Seine Stimme klang heiser und ängstlich. »Ich werde Ihnen den Weg zeigen. Wenn wir die Stelle erreichen, müssen Sie aussteigen und zur Mauer laufen. Der Scheinwerfer wird die Stelle anstrahlen, wo Sie hochklettern müssen. Stellen Sie sich in Richtung des Lichtstrahls. Beginnen Sie hochzuklettern, sobald der Strahl weiterschwenkt. Sie werden neunzig Sekunden haben, um hinüberzukommen. Sie gehen zuerst«, sagte er zu Leamas, »und das Mädchen folgt. Es sind Eisensprossen im unteren Teil - hernach müssen Sie sich hochziehen, so gut Sie können. Sie werden sich oben setzen und das Mädchen hochziehen müssen. Haben Sie verstanden?«
    »Wir haben verstanden«, sagte Leamas. »Wie lange ist es noch?«
    »Wenn Sie mit dreißig Stundenkilometern fahren, werden wir in ungefähr neun Minuten dort sein. Der Scheinwerfer wird genau fünf nach eins auf die Mauer gerichtet. Man kann Ihnen neunzig Sekunden geben. Nicht mehr.«
    »Was geschieht nach neunzig Sekunden?« fragte Leamas.
    »Man kann Ihnen nur neunzig Sekunden geben«, wiederholte der Mann. »Sonst ist es zu gefährlich. Es ist nur eine Streife instruiert worden. Die Männer glauben, dass Sie nach Westberlin eingeschleust werden. Sie haben den Befehl erhalten, es nicht zu leicht zu machen. Neunzig Sekunden genügen.«
    »Das will ich sehr hoffen«, sagte Leamas trocken. »Wie spät haben Sie?«
    »Ich habe meine Uhr mit der des Streifenführers verglichen«, antwortete der Mann. Auf dem Rücksitz des Wagens zuckte kurz ein Licht auf. »Es ist zwölf Uhr achtundvierzig. Fünf vor eins müssen wir weiter. Noch sieben Minuten zu warten.«
    Sie saßen in völliger Stille, bis auf das Geräusch des Regens, der auf das Wagendach trommelte. Das Pflaster der vor ihnen liegenden Straße wurde alle hundert Meter von schwachen Straßenlaternen beleuchtet. Es war niemand zu sehen. Der Himmel über ihnen schimmerte düster im unnatürlichen Schein entfernter Bogenlampen. Gelegentlich strich der Strahl des Scheinwerfers über sie hinweg. Weit links erblickte Leamas dicht über dem Horizont ein Licht, das wie der Widerschein eines Feuers laufend seine Stärke wechselte.
    »Was ist das?« fragte er, indem er darauf deutete.
    »Der Informationsdienst«, antwortete der Mann. »Eine Tafel aus vielen Lampen, mit der in Leuchtschrift Nachrichtenschlagzeilen nach Ostberlin herübergestrahlt werden.«
    »Natürlich«, murmelte Leamas. Sie waren dem Ende der Straße sehr nahe.
    »Es gibt kein Umkehren«, fuhr der Mann fort. »Hat er Ihnen das gesagt? Es gibt keine zweite Chance.«
    »Ich weiß«, erwiderte Leamas.
    »Wenn irgend etwas schiefgeht - wenn Sie fallen oder sich verletzen, kehren Sie nicht um. Innerhalb des Streifens an der Mauer wird sofort geschossen. Sie müssen hinüberkommen.«
    »Wir wissen Bescheid«, wiederholte Leamas. »Er hat es mir gesagt.«
    »Sobald Sie aus dem Wagen gestiegen sind, befinden Sie sich im Grenzstreifen.«
    »Wir wissen es. Nun seien Sie ruhig«, sagte Leamas.
    Dann fügte er hinzu: »Bringen Sie den Wagen zurück?«
    »Sobald Sie ausgestiegen sind, fahre ich weg. Auch für mich ist es gefährlich.«
    »Was Sie nicht sagen.«
    Wieder war Stille. Dann fragte Leamas: »Haben Sie einen Revolver?«
    »Ja«, sagte der Mann. »Aber ich kann ihn nicht hergeben. Er sagte, ich dürfe ihn Ihnen nicht geben … Sie würden sicher danach fragen.«
    Leamas lachte spöttisch. »Das dachte ich mir«, sagte er.
    Leamas startete den Motor. Mit einem Lärm, der die ganze Straße auszufüllen schien, fuhr der Wagen langsam vorwärts. Sie waren ungefähr hundert Meter gefahren, als der Mann aufgeregt flüsterte: »Hier rechts, dann links.« Sie bogen in eine enge Nebenstraße ein. Zu beiden Seiten waren leere Marktstände, so dass der Wagen kaum hindurchkam.
    »Hier links, jetzt.«
    Leamas zog den Wagen schnell herum, diesmal zwischen zwei hohe Gebäude in eine Straße hinein, die wie eine Sackgasse aussah. Es hing Wäsche über der Straße, und Liz war nicht sicher, ob sie darunter hindurchkommen würden.
    Als sie sich dem Ende der Sackgasse näherten, sagte der Mann: »Links, fahren Sie auf den Fußweg.«
    Leamas fuhr den Bordstein hinauf und über den Bürgersteig in einen breiten Fußweg, der links von einem verfallenen Geländer und rechts von einem hohen, fensterlosen Gebäude
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