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Der Spion, der aus der Kälte kam

Titel: Der Spion, der aus der Kälte kam
Autoren: John le Carré
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war und die Welt dahinter verbarg. Es war niemand zu sehen, kein Laut war zu hören. Eine leere Bühne.
    Der Scheinwerfer des Wachtturmes begann zögernd, sich seinen Weg an der Mauer entlang abzutasten. Er kam langsam auf sie zu, und jedesmal, wenn er einhielt, konnten sie einzelne Steinblöcke und dazwischen die Streifen achtlos hingeworfenen Mörtels sehen. Der Lichtstrahl hielt unmittelbar vor ihnen an. Leamas sah auf die Uhr.
    »Fertig?« fragte er.
    Sie nickte.
    Er ergriff ihren Arm und begann vorsichtig, den Streifen zu überqueren. Liz wollte laufen, aber er hielt sie so fest, dass sie nicht konnte. Sie waren jetzt auf halbem Wege zur Mauer; der helle Halbkreis des Lichtes zog sie vorwärts, der Strahl war direkt über ihnen. Leamas war entschlossen, Liz sehr nahe bei sich zu halten, als fürchte er, dass Mundt sein Wort nicht halten und sie irgendwie im letzten Augenblick wegschnappen würde. Sie waren schon fast an der Mauer, als der Lichtstrahl nach Norden schwenkte und sie in völliger Dunkelheit ließ. Leamas führte Liz am Arm, während er mit seiner ausgestreckten linken Hand blind nach vorne tastete. Plötzlich stieß er gegen den rauhen, harten Beton. Jetzt konnte er die Mauer erkennen, und darüber den dreifachen Draht und die groben Haken, die ihn hielten. In die Steine waren Eisenklammern, ähnlich den Kletterhaken, geschlagen. Leamas ergriff den obersten und zog sich schnell hoch, bis er den Scheitel der Mauer erreicht hatte. Er riß scharf an dem unteren Draht, der ihm durchschnitten entgegenfiel. »Los«, flüsterte er drängend, »fang an zu klettern.«
    Er legte sich flach auf die Mauer, faßte hinunter, ergriff ihre ausgestreckte Hand und begann sie langsam nach oben zu ziehen, als ihr Fuß die erste Metallsprosse gefunden hatte.
    Plötzlich schien die ganze Welt in Flammen aufzugehen; von überallher, von oben und beiden Seiten vereinigten sich mächtige Lichtstrahlen und trafen sie mit unbarmherziger Genauigkeit. Leamas war geblendet, er drehte seinen Kopf weg und riß wild an Liz' Arm. Sie schwang jetzt frei; er glaubte, sie sei abgerutscht. Er rief wie wahnsinnig ihren Namen, wobei er sie weiter nach oben zu ziehen versuchte. Er konnte nichts sehen - nur einen wilden Farbentanz vor seinen Augen.
    Dann kam das hysterische Geheul von Sirenen und das Gebrüll befehlender Stimmen. Halb auf der Mauer kniend, packte er sie an beiden Armen und zog sie ganz langsam Zentimeter um Zentimeter zu sich herauf, wobei er selbst zu fallen drohte.
    Dann schossen sie. Es waren drei oder vier einzelne Schüsse, und Leamas fühlte das Zittern, das durch Liz' Körper fuhr. Ihre dünnen Arme lösten sich aus seinen Händen. Er hörte eine Stimme von der Westseite der Mauer auf englisch rufen:
    »Spring, Alec! Spring!«
    Alles schrie jetzt auf englisch, französisch und deutsch durcheinander. Er hörte Smileys Stimme aus ziemlicher Nähe: »Das Mädchen, wo ist das Mädchen?«
    Er hielt die Hand über seine Augen und sah an der Mauer hinunter. Schließlich entdeckte er sie. Sie lag reglos auf dem Pflaster.
    Einen Augenblick zögerte er. Dann kletterte er langsam wieder an den Sprossen hinunter, bis er neben ihr stand. Sie war tot. Das schwarze Haar war über ihr abgewandtes Gesicht gefallen, als solle es sie gegen den Regen schützen.
    Sie schienen zu zögern, bevor sie wieder schossen. Jemand brüllte einen Befehl, und noch immer feuerte niemand. Schließlich gaben sie zwei oder drei Schüsse auf ihn ab. Er stand und starrte wie ein geblendeter Stier in der Arena um sich. Während er stürzte, sah Leamas zwischen großen Lastwagen ein kleines zerquetschtes Auto, aus dem ihm Kinder fröhlich durch die Scheibe zuwinkten.
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