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Der Spion, der aus der Kälte kam

Titel: Der Spion, der aus der Kälte kam
Autoren: John le Carré
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können den Kommunismus nicht aufbauen, ohne vorher den Individualismus erledigt zu haben. Man kann nicht ein großes Gebäude planen, wenn auf dem Grundstück irgendein Schwein seinen Stall errichtet.«
    Liz sah sie erstaunt an.
    »Wer hat Ihnen das alles gesagt?«
    »Ich bin hier Kommissar«, sagte sie stolz. »Ich arbeite im Gefängnis.«
    »Sie sind sehr klug«, bemerkte Liz und kam näher.
    »Ich bin eine Arbeiterin«, erwiderte die Frau scharf. »Die Vorstellung, dass der Gehirnarbeiter einer höheren Klasse angehört, muß ausgerottet werden. Es gibt keine Klassen, alle sind Arbeiter. Zwischen physischer und geistiger Arbeit ist kein Unterschied. Haben Sie Lenin nicht gelesen?«
    »Dann sind die Menschen in diesem Gefängnis Intellektuelle?«
    Die Frau lächelte. »Ja«, sagte sie, »es sind Reaktionäre, die sich fortschrittlich nennen: Sie verteidigen das Individuum gegen den Staat. Wissen Sie, was Chruschtschow über die Gegenrevolution in Ungarn gesagt hat?«
    Liz schüttelte den Kopf. Sie mußte Interesse zeigen, sie mußte die Frau zum Sprechen bringen.
    »Er sagte, es wäre nie passiert, wenn man rechtzeitig ein paar Schriftsteller erschossen hätte.«
    »Wen werden sie jetzt nach dem Prozeß erschießen?« fragte Liz schnell.
    »Leamas«, erwiderte sie gleichgültig. »Und den Juden - Fiedler.« Einen Augenblick glaubte Liz, sie müsse fallen, aber ihre Hand fand die Lehne eines Stuhles, und es gelang ihr, sich niederzusetzen.
    »Was hat Leamas getan?« flüsterte sie. Die Frau schaute sie mit ihren kleinen schlauen Augen an. Sie war eine massige Frau mit dünnem Haar, das über den Kopf zurückgekämmt und im speckigen Nacken zu einem Knoten geschlungen war. Ihr großes Gesicht war schlaff und blaß.
    »Er hat einen Posten getötet«, sagte sie.
    »Warum?«
    Die Frau zuckte mit den Achseln. »Was den Juden betrifft«, fuhr sie fort, »er hat Anklagen gegen einen loyalen Genossen erhoben.«
    »Und deshalb werden sie Fiedler erschießen?« fragte Liz ungläubig.
    »Juden sind alle gleich«, kommentierte die Frau. »Genosse Mundt weiß mit Juden umzugehen. Wir können sie hier nicht brauchen. Falls sie der Partei beitreten, meinen sie, dass die Partei ihnen gehört. Bleiben sie aber draußen, dann glauben sie, die Partei mache eine Verschwörung gegen sie. Man sagt, dass Leamas und Fiedler zusammen ein Komplott gegen Mundt angezettelt hätten. - Essen Sie das hier?« erkundigte sie sich dann und wies auf die Mahlzeit auf dem Schreibtisch. Liz schüttelte den Kopf. »Dann muß ich es«, erklärte sie mit dem lächerlichen Versuch, Widerwillen zu zeigen.
    »Man hat Ihnen Kartoffeln gegeben: Sie müssen einen Verehrer in der Küche haben!« Der in dieser Bemerkung liegende Humor amüsierte sie, bis sie den letzten Rest von Liz' Mahlzeit gegessen hatte.
    Liz kehrte zum Fenster zurück.
    Trotz der Verwirrung, zu der sich in der Seele von Liz Scham, Kummer und Angst mischten, wurden ihre Gedanken von der schrecklichen Erinnerung an Leamas beherrscht, so wie sie ihn zuletzt im Gerichtssaal gesehen hatte: steif auf seinem Stuhl sitzend und ihren Blick meidend. Sie hatte ihn im Stich gelassen, und er wagte nicht, sie noch einmal anzusehen, bevor er starb. Er wollte ihr die Verachtung und vielleicht die Furcht in seinem Gesicht nicht zeigen. Aber wie hätte sie sich anders verhalten können? Wenn er ihr doch nur von seinem Vorhaben erzählt hätte! Selbst jetzt war es ihr noch nicht klar. Sie hätte für ihn gelogen und betrogen und alles getan, wenn er ihr nur etwas gesagt hätte! Sicher verstand er das. Sicher kannte er sie gut genug, um zu wissen, dass sie schließlich immer tun würde, was er auch sagte, dass sie sich ganz seiner Art, seinem Leben, Willen, Vorbild und Leid anpassen würde, wenn es ihr möglich war, dass sie sich nichts sehnlicher wünschte, als diese Möglichkeit zu haben. Aber wenn man ihr nicht sagte, was sie auf die verhüllten, heimtückischen Fragen zu antworten hatte - woher hätte sie es wissen sollen? Die durch sie verursachte Zerstörung schien ohne Grenzen. In ihren fiebrigen Gedanken erinnerte sie sich daran, wie entsetzt sie als Kind gewesen war, als sie erfuhr, dass ihr Fuß bei jedem seiner Schritte Tausende winziger Kreaturen vernichtete. Und jetzt war sie gezwungen worden, ein menschliches Leben zu vernichten, gleichgültig, ob sie die Wahrheit gesagt, gelogen oder auch nur geschwiegen hätte. Vielleicht hatte sie sogar zwei Menschen vernichtet, denn war da nicht auch der Jude,
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