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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel
Autoren: Michael Ende
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nur mit dem Blick, nach oben. «Was suchen die hier eigentlich? Ob das was bedeutet?»
    «Nicht stehenbleiben!» murmelt der andere. «Wenn uns jemand sieht... außerdem sind es Krähen.»
    Und bei der nächsten Begegnung: «Sie kommen nie herunter. Sie bleiben immer in der Luft. Tag und Nacht. Wie machen sie das? Und es sind Raben, sag' ich dir.»
    Die beiden gehen auseinander, kehren um, treffen sich wieder, wechseln die Waffen.
    «Krähen!» sagt der zweite Soldat durch zusammengebissene Zähne. Das Wort fliegt als kleine Wolke von seinem Mund. «Ich hab mal eine abgeschossen, bloß so. Die hatte Augen, kann ich dir sagen, wie Taschenlampen.» «Was ist los?» fragt der erste, «hast du Angst?» Bei der nächsten Begegnung fragt der zweite zurück: «Und du?» Der erste zuckt nur die Achseln. Ein paarmal gehen sie auf und ab ohne Wortwechsel.
    «Wenn man bloß wüßte», fängt der erste Wächter wieder an, «wozu wir diesen Affentanz hier aufführen.»
    Der zweite zieht den Inhalt seiner tropfenden Nase hoch. «Wir bewachen die Tür. Dumme Frage.» «Warum? Damit niemand rauskommt?»
    «Klar. Der Stierkopf. Weißt du doch selbst. Gefährlich.»
    «Da drin? Wo denn? Hinter der Tür?»
    Pause. Auseinandergehen. Stampfen. Umkehren.
    «Ist da schon mal jemand rausgekommen aus der Tür?»
    «Nie. Weil er jeden verschlingt.» Und mit schiefem Grinsen setzt der zweite Wächter hinzu: «Ein Ungeheuer.»
    Während sie die Waffen tauschen, murmelt der erste: «Wer da reingeht, heißt es, kann nie wieder zurück. Die Tür führt immer woanders hin, nur nicht dorthin, woher einer gekommen ist.»
    «Na siehst du«, sagt der zweite befriedigt, während sie auseinandergehen, «ich sag' doch, es kommt keiner raus.»
    Sie kehren um, treffen sich wieder.
    «Warum», fragte der erste dickköpfig, «bewachen wir dann die Tür?»
    «Mensch...» sagt der andere ungeduldig, «vielleicht damit keiner reingeht, was weiß ich.»
    «Will denn da einer rein?»
    «Freiwillig sicher nicht. Müßte ja lebensmüde sein.»
    Auseinandergehen. Kehrtwendung. Waffentausch.
    Der erste bohrt weiter. «Es will also niemand rein?» «Ich tat's nicht für 'ne Million.»
    «Und es ist auch noch nie einer rein?»
    «Keine Ahnung. Früher vielleicht. Vor meiner Zeit. Ich erinnere mich nicht.»
    «Wozu bewachen wir dann die Tür?»
    Jetzt wird der andere laut. «Ich sag' dir doch: Damit niemand rauskommt. Ist doch scheißegal. Mach deinen Dienst und hält's Maul.»
    Der erste Wächter nickt. «Schon gut.»
    Und erst nachdem sie eine ganze Weile schon schweigend hin und her marschiert sind, fügt er entschuldigend hinzu: «Es ist wie ein hohler Zahn. Man geht immer wieder mit der Zunge dran, ob man will oder nicht.»
    Die Schwärme der schwarzen Vögel am Himmel kreisen und kreisen ohne einen Laut. Schließlich hält es der erste Wächter nicht mehr aus.
    «Raben», sagt er leise vor sich hin, «sind verkleidete Engel.»
    Der andere bekommt einen Hustenanfall. «Blödsinn!» stößt er heiser hervor. «Es sind Krähen, gewöhnliche Krähen. Raben gibt's nur noch sehr selten.»
    «Engel auch», meint der erste und schaut am anderen vorbei.
    «Blödsinn!» wiederholt der zweite Soldat, aber diesmal hört sich seine Stimme kraftlos und weinerlich an. «Wenn's überhaupt welche gibt, dann gibt es sie wie Sand am Meer. Aber nicht hier, nicht bei uns.»
    «Wo denn?»
    «In anderen Zeiten.»
    Beim nächsten Waffentausch fragt der erste Wächter: «Hast du schon einmal auf der anderen Seite nachgesehen?»
    «Hinter der Tür? Nein, wozu?»
    Eine lange Gesprächspause, während welcher beide ihren zeremoniellen Tanz vollführen. Schließlich meint der erste: «Verboten ist es nicht.»
    «Erlaubt auch nicht», versetzt der andere. «Jedenfalls ist es gegen unsere Dienstvorschrift.»
    «Da steht nichts davon, auf welcher Seite der Tür die Wachen marschieren müssen.»
    Sie setzen ihren Marsch fort, einmal, zweimal, dreimal begegnen sie sich und schauen sich stumm in die Augen, dann plötzlich wie auf Verabredung wechseln beide gleichzeitig die Richtung, und jeder stapft von seiner Seite aus um den Mauerrest herum durch den Schnee, der hier hoch und unberührt liegt. Bei der Begegnung sagt der zweite Wächter erleichtert: «Ich hab's doch gesagt!»
    «Es ist überhaupt nichts dahinter», antwortet der erste. «Sie sieht von hinten genauso aus wie von vorn.»
    «Sie führt nirgends hin», bestätigt der zweite. «Jetzt weißt du's.»
    Beide kehren auf ihre vorigen Plätze
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