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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel
Autoren: Michael Ende
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erklärt mir eins, Damen und Herren: Was wird aus einem Traum, wenn der Träumer erwacht? Nichts? Ist er dann nichts mehr? Aber ich will hier raus - im Ernst! Ich will nicht mehr träumen, da zu sein. Ich will mich auch nicht mehr von wer weiß wem träumen lassen. Oder träumen wir alle uns gegenseitig? Ein Gewebe von Träumen, ein Traumdickicht ohne Grenzen, ohne Grund? Sind wir alle ein einziger Traum, den niemand träumt?
    In diesem Augenblick fliegt ein Bierglas haarscharf am Kopf des Clowns vorüber und zersplittert krachend hinter ihm an der Wand. Der Schankbursche kann es nicht geworfen haben, denn es ist aus ganz anderer Richtung gekommen. Doch hat der Clown auch nicht gesehen, daß einer der Schläfer sich geregt hätte. Während er noch, die Hand über den Augen, herumspäht, fliegt wiederum aus einer anderen Richtung eine Flasche auf ihn zu, der er nur knapp ausweichen kann. Weitere Flaschen, Biergläser, Aschenbecher aus Steingut und andere Gegenstände folgen kreuz und quer aus allen Richtungen, bis ein wahrer Hagel solcher Wurfgeschoße um ihn her losbricht. Schützend legt er die Arme um den Kopf und bückt sich, kann aber so, in seiner Sicht behindert, nicht mehr wendig genug ausweichen und wird einige Male an Rücken, Schultern und Armen sehr schmerzhaft getroffen.
    Da die Wucht der Wurfgeschoße immer zunimmt, so daß sie bald mit dem schrillen Kreischen von Querschlägern die Luft durchschneiden, hält der Clown es für angeraten, vom Tisch herunterzuspringen. Auf allen vieren und immer auf Deckung bedacht, kriecht er zwischen den Beinen der reglos Schlafenden auf die Küchentür zu. Er erreicht sie schließlich, aber sie läßt sich nicht öffnen. Nicht so, als sei sie abgeschlossen, sondern so, als habe man von der anderen Seite schwere Möbel davorgeschoben. Er rüttelt an der Klinke, hämmert mit Fäusten gegen die Tür, was allerdings im Tumult der Wurfgeschoße kaum zu hören ist, und stemmt sich mit all seiner nicht mehr sehr großen Kraft dagegen. Es ist vergeblich. Er richtet sich auf und blickt in den Saal zurück. Nun ist auch der Schankbursche nicht mehr da, vielleicht hat auch er sich vor dem Bombardement in Sicherheit gebracht. Der Clown ist allein mit dem Heer der Schlafenden und ihrer Schlacht.
    Wenn es aber so ist, daß ich nur euer gemeinsamer Traum bin, daß ihr alle zusammen mich von Anfang an geträumt habt, daß ich nie etwas anderes war als der Traum meines hochverehrten Publikums - dann bitte ich euch, meine lieben Träumer, ich bitte euch von ganzem Herzen: Entlaßt mich nun! Träumt hinfort von etwas anderem, aber nicht mehr von mir! Ich kann nicht mehr. Ich mute euch nicht zu aufzuwachen. Schlaft meinetwegen weiter, solange ihr wollt und schlaft gut, aber hört auf, mich zu träumen! Ihr habt euren Spaß an mir gehabt, bitte, laßt mich nun gehen!
    Im gleichen Augenblick trifft ihn ein steinerner Bierkrug mit der Gewalt einer Granate an der Stirn und zerbirst. Das blasse alte Säuglingsgesicht des Clowns ist plötzlich rot von Blut und zeigt den Ausdruck tiefster Überraschung und völliger Einsicht. Er lächelt, als habe er endlich alles verstanden. Seine Arme vollführen jene zeremonielle Gebärde, mit der er stets für den Applaus der Zuschauer gedankt hat, dann stürzt er steif wie eine Wachsfigur vornüber auf den scherbenbedeckten Dielenboden.

EIN WINTERABEND,
     
    der Himmel ist zartrosa, kalt und weit, über einer grenzenlosen schneebedeckten Ebene. Inmitten dieser Ebene ragt ein Ruinenstück auf, der Rest einer dicken Mauer. Darin befindet sich eine Tür. Eine ganz gewöhnliche, geschlossene Haustür, apfelgrün gestrichen, ohne Namensschild, zu der drei ausgetretene Steinstufen emporführen. Der Schnee vor den Stufen ist glattgestampft, denn hier gehen zwei Wachsoldaten beständig auf und ab wie gegeneinander schwingende Pendel. Ihre Bewegungen ergeben eine Art Ballett aus zögerndem Schreiten, Verharren, raschem Stampfen, neuerlichem Verharren, plötzlichen Wendungen, eiligem Trippeln und wiederum zögerndem Schreiten: Ein kompliziertes Ritual. Die Uniformen der Männer sind schwarz und glänzend, auch die Helme und Stulpenhandschuhe. Beide halten Maschinenpistolen schußbereit unterm Arm. Wenn sie aneinander vorübergehen, tauschen sie die Waffen jedesmal mit einigen eckigen Bewegungen aus. Dabei wechseln sie mit halblauter Stimme ein paar Worte. Am Himmel kreisen Schwärme großer schwarzer Vögel, lautlos.
    «Die Raben!» sagt der eine Wächter und deutet,
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