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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel
Autoren: Michael Ende
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hinzu: «Und wohin geht alle Erinnerung der Welt, wenn wir Menschen sie längst vergessen haben?»
    «Aber die, die vor mir durch diese Tür gegangen sind», ruft der junge Mann verwirrt, «er hat sie doch verschlungen!»
    «Wir erinnern uns an niemand, wie sollen wir wissen, was mit ihnen geschehen ist?»
    Der junge Matador steht auf, er ist bleich unter seiner braunen Haut, seine Augen glänzen wie im Fieber. «Ich werde es schon herausfinden, was mit ihnen geschehen ist!»
    Aber das Mädchen schüttelt wieder den Kopf. «Auch du wirst kein Held sein, armer Junge. Ein Held ist einer, von dem man erzählen kann, darum muß er in demselben Traum, in derselben Geschichte bleiben wie die, die von ihm erzählen. Aber unser Erinnern reicht nur bis zu dieser Schwelle hier. Wer sie überschreitet, hat unseren Traum verlassen.»
    «Ich dagegen», sagt der junge Mann tapfer, «werde deinem Halbbruder von dir erzählen, wenn ich ihn finde. Ich werde dich nicht vergessen.»
    Er steigt die drei ausgetretenen Stufen hinauf und legt die Hand auf die Klinke. Aber er zögert noch und wendet sich um.
    «Wirklich», sagt er leise, «willst du mir gar nichts mitgeben?»
    Zum ersten Mal lächelt das Mädchen, und zum ersten Mal erscheint sie gerade deshalb traurig. «Meinst du ein Fadenknäuel, an dem du dich zurücktasten könntest, nach vollbrachter Tat? Es würde dir nichts nützen, mein Freund, denn sobald sich diese Tür hinter dir schließt, weißt du nichts mehr von mir und ich nichts mehr von dir. Du wüßtest nicht einmal, was das unnütze Knäuel in der Hand bedeuten soll, und würdest es fortwerfen. Du wirst durch viele Verwandlungen gehen, aus einem Bild ins andere. Und jedesmal wirst du glauben zu erwachen und dich nicht mehr an deinen vorigen Traum erinnern. Du wirst vom Inneren ins Innere des Inneren stürzen und immer weiter bis ins innerste Innere, ohne dich zu erinnern, durch Leben und Tode, und immer wirst du ein anderer sein und immer derselbe, dort, wo es keine Unterschiede gibt. Den aber, den du töten willst, wirst du niemals erreichen, denn wenn du ihn gefunden hast, wirst du dich in ihn verwandelt haben. Du wirst er sein, der erste Buchstabe, das Schweigen, das allem vorausgeht. Dann wirst du wissen, was Einsamkeit ist.»
    Sie hält inne, als habe sie zu viel gesagt, aber nach einer kleinen Weile fügt sie leise hinzu:
    «Nein, ich kam dir nichts mitgeben, nicht einmal diesen Kuß.»
    Sie steigt zu ihm hinauf und küßt ihn. Er läßt es mit hängenden Armen geschehen, und ihm ist, als sei er schon jetzt nichts mehr als ein längst vergessener Name.
    «Und du?» fragt er, «wirst du wenigstens diesen Kuß, den niemand von dir bekommen hat, behalten?»
    «Nein», sagt sie, «geh!»
    Da dreht er sich rasch um, drückt auf die Klinke, die Tür öffnet sich leicht, und er geht hindurch. Das Mädchen bleibt reglos stehen, bis sie sich wieder geschlossen hat.
    Der eine Wachsoldat stößt den anderen an. «Was macht sie da eigentlich? Die Tür ist auf und zu gegangen.»
    «Keine Ahnung», sagt der andere.
    Sie sehen, daß das Mädchen ihnen winkt, laufen zu ihr und präsentieren.
    «Er tut mir leid», sagt das Mädchen leise.
    Die Soldaten sehen sich ratlos an.
    «Wer tut Ihnen leid, Hoheit?» fragt der erste.
    «Niemand», antwortet sie, «ich dachte an meinen Bruder dort hinter der Tür, an meinen armen Bruder Hör.»
    Und während sie sich abwendet und fortgeht, murmelt sie noch einmal: «Armer, armer Hör.»
     
     
     
     
     
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