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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel
Autoren: Michael Ende
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man ist. Die Freiheit gibt es immer nur in der Zukunft. In der Vergangenheit ist sie nicht mehr zu finden. Niemand kann sich eine andere Vergangenheit aussuchen. Alles, was geschieht, mußte so kommen, wie es kam. Nachträglich ist alles zwangsläufig, vorher nichts. Das einzige, worum es geht, ist aufzuwachen aus dem Traum. Trotzdem laufen wir hinter der Freiheit her, wir können nicht anders, aber die Freiheit ist uns immer einen Schritt voraus wie eine Luftspiegelung, ist immer im nächsten Augenblick, immer in der Zukunft. Und die Zukunft ist dunkel, eine schwarze, undurchdringliche Wand vor unseren Augen. Nein, sie geht mitten durch unsere beiden Augen, quer durch unseren Kopf. Wir sind blind. Von Zukunft geblendet. Wir sehen niemals, was vor uns liegt, niemals die nächste Sekunde, bis wir uns die Nase daran einschlagen. Wir sehen nur, was wir schon gesehen haben. Das heißt also: Nichts.
    Der Clown geht in eines der Häuser hinein. Es ist trübe erleuchtet. Die Türen sind zersplittert, in den Wohnungen findet er umgestürzte Stühle, zerschlagene Möbel, Brandspuren, zerrissene Vorhänge. Um einen Tisch sitzen Leute, sie scheinen schon sehr lange hier zu sitzen, denn zwischen ihnen haben Spinnen ihre Netze gewebt. Die Gesichter, ausgedörrt wie die von Mumien, zeigen die Zähne oder haben die Münder weit aufgerissen wie zu unhörbarem Gelächter. Zwischen ihnen bemerkt der Clown einen mageren jungen Mann, der mit dem Kopf auf den Armen schläft. Auf den Staub der Tischplatte sind Zahlen geschrieben, viele Zahlen. Der Junge schläft wie ein Kind, und der Clown geht leise hinaus, um ihn nicht zu wecken.
    Er gerät in Hinterhöfe und steigt über zerbröckelnde Mauern und hat sich schließlich, wie er's voraussehen konnte, rettungslos verirrt. Doch beunruhigt ihn das nicht weiter.
    Und dann steht er plötzlich auf einem weiten Platz, der hell erleuchtet ist. Aus vielen Schaufenstern eines Warenhauses strahlt Licht.
    Der Clown geht von einem zum anderen, alle sind leer. Erst als er um eine Ecke biegt, sieht er eine Ansammlung von Menschen, die vor einer der Glasscheiben stehen und reglos hineinstarren, darunter auch mehrere Schwarzuniformierte. Er ist nicht ganz sicher, aber es kommt ihm so vor, als ob auch die zwei, mit denen er geredet hat, darunter sind - und die anderen, die die Verhafteten abführten, und auch ihre Opfer stehen da. Sie interessieren sich nicht mehr für einander, sie sind ganz in Anspruch genommen von dem, was sie im Schaufenster sehen.
    Der Clown stellt sich auf die Zehen und blickt über ihre Köpfe hinweg. Hinter der großen Glasscheibe quirlt es von riesigem Geziefer, von armlangen Panzerwürmern, die sich aufrichten mit tausend flimmernden Beinchen, von handtellergroßen Asseln und von Käfern, schwarz und dick wie Stiefel. Hoch über dem Gewimmel schwebt eine große Kugel, glattpoliert und metallen. Sie schwebt, wie es scheint, frei in der Luft, ganz ohne Haltevorrichtung oder Fäden und dreht sich in jeder Richtung, bald langsam, bald wirbelnd schnell. Auf dieser Kugel sitzt eine Ratte, eine enorme Ratte, fast so groß wie ein Hund. Sie läuft gewandt in der jeweils entgegengesetzten Richtung, um sich auf der Kugel zu halten. Wer weiß, wie lange sie sich schon in dieser schrecklichen Lage befindet. Sie scheint am Ende ihrer Kräfte, ihr Fell ist naß und struppig von Angstschweiß, ihr Maul halb geöffnet, so daß man die gelben langen Nagezähne sieht, ihr Atem geht rasend schnell. Lang wird sie es nicht mehr machen, bald wird sie abgleiten und in das grausige Gewimmel stürzen, das schon gierig mit tausend Fühlern und Zangen nach ihr hinauftastet.
    Dieses Schauspiel also ist es, das die Leute vor der Scheibe vereinigt.
    Die Hölle ist ein böser Traum, der nie endet. Aber wie bin ich in ihn hineingeraten? Was muß ich nur tun, um endlich aufzuwachen? Der Clown blickt in die Gesichter der Umstehenden. Ihre Augen sind offen, aber glasig wie die von Schlafenden. Einigen stehen die Münder auf. Keiner beachtet den, der sie so ganz aus der Nähe anstarrt. Sie haben sich auch gegenseitig vergessen. Und er weiß, daß keine dieser lebenden Puppen ihm antworten würde, wenn er sie nach dem Weg fragte. Außerdem darf er es nicht, er darf ja die Adresse nicht nennen, um keinen Preis. Ich wende mich an dich, an den, der mich träumt, wer du auch sein magst. Ich weiß, ich kann nichts gegen dich ausrichten, du bist der stärkere. Führe mich also, wohin du willst, aber denk daran: Mir machst
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