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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel
Autoren: Michael Ende
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mit dem Knüppel auf den Mann ein. Die übrigen Verhafteten sind stehen geblieben und sehen mit bleichen, halb schlafenden Gesichtern zu.
    Die Akrobatin kommt, nun ohne ihren Mantel, zur Gruppe der Zirkusleute zurück.
    «Tut doch was!» stammelt sie. «Steht doch nicht da wie Idioten! Tut doch was!»
    Ich habe mir immer Mühe gegeben, Damen und Herren, ich habe getan, was mir möglich war.
    Der Clown schiebt sich nach vorn. Er tätschelt der Akrobatin die Backe und murmelt: «Laßt mich das mal machen.»
    Erstaunte Blicke treffen ihn. Die Akrobatin flüstert: «Habt ihr gehört?»
    Wie kann man Angst haben, wenn man gleich aufwachen wird? Auch ich bin nur ein Traum. Meine Existenz ist lächerlich und unbegreiflich.
    Inzwischen sind zwei andere Schwarzuniformierte mit Maschinenpistolen unterm Arm zwischen den Wohnwagen aufgetaucht und kommen auf die Gruppe der Zirkusleute zu. Der Clown geht ihnen entgegen. Sie halten inne, die Waffen im Anschlag. Ihre Gesichter sind jung, kindlich und ein wenig gedunsen. Sie sehen aus, als schliefen sie mit offenen Augen.
    Der Clown zieht die zusammengerollte Peitsche des Direktors aus der Manteltasche und tippt damit grüßend an den Rand seines Hutes. Die beiden Uniformierten schauen unsicher auf die Peitsche, dann tauschen sie einen raschen Blick miteinander und stehen stramm.
    «Kennt ihr mich?» fragt der Clown in scharfem, befehlsgewohntem Ton.
    Abermals wechseln die beiden einen unsicheren Blick, dann sagt der eine: «Zu Befehl, nein.» «Ihr werdet mich kennen lernen», fährt der Clown fort, «und ich garantiere euch, daß es euch leid tun wird, mir in den Weg gelaufen zu sein!
    Habt ihr gesehen, was dort drüben passiert ist?»
    «Zu Befehl, nein», sagt diesmal der andere Soldat.
    «Was für ein Hornochse hat hier eigentlich das Kommando?» bellt der Clown sie an, «keiner weiß vom anderen, keiner weiß, was los ist, jeder wurstelt für sich herum, wie er Lust hat! Das Wort Disziplin scheint hier ein Fremdwort zu sein. Dort drüben werden Leute abgeführt, deren Verhaftung mir vorbehalten war, ganz alleine mir! Diese übereifrigen Idioten haben damit einen unserer wichtigsten Pläne vereitelt! Verdammt nochmal, hier wird nicht Räuber und Gendarm gespielt, verstanden! Beeilt euch gefälligst, ihr Hanswurste, und meldet euren Kameraden da drüben, daß die Gefangenen unverzüglich frei zu lassen sind, unverzüglich! Habt ihr das begriffen?»
    «Jawohl», sagt der erste Schwarzuniformierte, «aber was soll ich melden, von wem der Befehl kommt?»
    «Von mir!» schreit ihn der Clown an, «sagt diesen gottverdammten Narren, der Befehl kommt von dem Mann mit der Peitsche! Ich hoffe, daß die besser informiert sind als Ihr beide, sonst gnade ihnen Gott. Worauf wartet Ihr noch? Beeilt euch, hopp!»
    Die beiden Uniformierten rennen los, nicht sonderlich eilig, sie sind sichtlich konfus. Die Gruppe der Verhafteten und ihrer Wächter ist inzwischen irgendwo in der Dunkelheit verschwunden. Der Clown dreht sich nach den Kollegen um, aber auch die sind fort. Er steht allein auf dem Platz.
    Langsam geht er in Richtung Stadtzentrum. Er hat noch viel Zeit bis Mitternacht, aber er wird die Adresse, die der Direktor ihm gegeben hat, suchen müssen. Und er hat einen beklagenswerten Orientierungssinn. Er geht und geht, einen Schritt vor den anderen, blindlings, wie er sein ganzes Leben lang gegangen ist.
    Wie jeder sein ganzes Leben lang geht, ohne den nächsten Augenblick zu kennen, ohne zu wissen, ob er beim nächsten Schritt noch auf festen Boden treten oder schon ins Nichts stolpern wird. Diese Welt ist so fadenscheinig, daß jeder Schritt ein Entschluß ist.
    Es ist diese besondere Art zu gehen, die die Zuschauer schon zu Anfang seiner Nummer zum Lachen reizt. Er braucht nur in die Manege zu kommen, ein wenig torkelnd immer, irgendwie zaudernd und mit jedem Schritt das Zaudern überwindend, gleichsam trotzig auftretend, als wolle er es darauf ankommen lassen. Wie ein dickköpfiges Kind.
    In den Straßen, durch die er kommt, liegen umgestürzte Autos, manche brennen noch ein wenig. Viele Fensterscheiben sind zerbrochen, und das Glas knirscht unter seinen Sohlen. Er steigt über einen toten Hund, und später sieht er in einer Öllache einen Vogel, der auf dem Rücken liegt mit ausgebreiteten Flügeln. Wahrscheinlich hat ihn der Rauch getötet.
    Meine Existenz ist unbegreiflich und lächerlich. Aber es lag nie in meiner freien Entscheidung, mir eine andere zu wählen. Man bleibt der, der
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