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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel
Autoren: Michael Ende
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sich nach einem solchen Ausblick geradezu sehnt - es ist nur eine Art von Spiel, ein absichtsloses Erfinden von allerlei Möglichkeiten. In seinen Träumen indessen hat Hor mitunter solche Ausblicke genossen, ohne jedoch nach dem Erwachen irgend etwas Sagbares davon behalten zu haben. Er weiß nur, daß es so war und daß er meist tränenüberströmt aufwachte. Doch Hor mißt dem wenig Bedeutung bei, er erwähnt es nur der Merkwürdigkeit halber...
    Ich habe mich falsch ausgedrückt. Hor träumt niemals, und eigene Erinnerungen besitzt er nicht. Und doch ist sein ganzes Dasein angefüllt mit den Schrecken und Wonnen von Erlebnissen, die nach der Weise plötzlichen Erinnerns seine Seele überfallen.
    Freilich nicht immer. Zuzeiten bleibt seine Seele lange still wie ein regloser Wasserspiegel, doch zu anderen Zeiten stürmen diese Erlebnisse von allen Seiten auf ihn ein, sie bedrängen ihn, sie schlagen ihn wie Blitze, daß er durch die leeren Gänge jagt, taumelt, bis er erschöpft hinstürzt und liegenbleibt und sich ergibt. Denn dagegen ist Hor wehrlos.
    Nach der Weise plötzlichen Erinnerns. Sagte ich so?
    Ich heiße Hor.
    Aber wer ist das: Ich - Hor? Bin ich denn nur einer? Oder bin ich zwei und habe die Erlebnisse jenes zweiten? Bin ich viele? Und all die anderen, die ich sind, leben dort draußen, außerhalb jener äußersten, letzten Mauer? Und sie alle wissen nichts von ihren Erlebnissen, nichts von ihren Erinnerungen, denn bei ihnen im Außerhalb haben sie keine Bleibe? Ach, aber bei Hor bleiben sie, mit seinem Leben leben sie, ihn fallen sie an ohne Erbarmen. Sie verwachsen mit ihm, er zieht sie hinter sich her wie eine Schleppe, die schon endlos durch die Säle und Zimmer schleift und immer noch wächst und wächst.
    Oder geht auch etwas von mir zu euch dort draußen, dem einen oder den vielen, die ihr eins mit mir seid wie die Bienen mit der Königin? Fühlt ihr mich, Glieder meines verstreuten Leibes? Hört ihr meine unhörbaren Worte, jetzt oder ohne Zeit? Suchst du am Ende nach mir, mein anderer? Nach Hor, der du selber bist? Nach deinem Erinnern, das bei mir ist? Nähern wir uns einander durch unendliche Räume wie Sterne, Schritt für Schritt und Bild für Bild?
    Und werden wir einmal einander begegnen, einst oder ohne Zeit?
    Und was werden wir dann sein? Oder werden wir nicht mehr sein? Werden wir einander aufheben wie Ja und Nein?
    Aber eines wirst du dann sehen: Ich habe alles getreulich bewahrt.
    Mein Name ist Hor.

DER SOHN HATTE SICH UNTER DER KUNDIGEN ANLEITUNG
     
    seines Vaters und Meisters Schwingen erträumt. Viele Jahre hindurch hatte er sie Feder um Feder, Muskel um Muskel und Knöchelchen um Knöchelchen in langen Stunden der Traumarbeit gebildet, bis sie mehr und mehr Gestalt annahmen. Er hatte sie in der richtigen Stellung aus seinen Schulterblättern hervorwachsen lassen (es war ganz besonders schwierig, den eigenen Rücken tatsächlich genau im Traum wahrzunehmen), und er hatte nach und nach gelernt, sie sinnvoll zu bewegen. Es hatte seine Geduld auf eine harte Probe gestellt weiter zu üben, bis er nach endlosen mißlungenen Versuchen das erste Mal in der Lage war, sich für einen kurzen Augenblick in die Luft zu erheben. Aber dann gewann er Zutrauen zu seinem Werk, dank der unverbrüchlichen Freundlichkeit und Strenge, mit der sein Vater ihn führte. Im Laufe der Zeit hatte er sich an seine Flügel so völlig gewöhnt, daß er sie ganz und gar als Teil seines Körpers empfand, so sehr, daß er sogar Schmerz oder Wohlgefühl in ihnen spürte. Zuletzt hatte er die Jahre, da er noch ohne sie gewesen war, aus seinem Gedächtnis löschen müssen. Er war nun mit ihnen geboren wie mit seinen Augen oder Händen. Er war bereit.
    Es war keineswegs verboten, die Labyrinthstadt zu verlassen. Im Gegenteil, wem es gelang, der wurde als ein Heros, als ein Begnadeter betrachtet, und man erzählte seine Sage noch lang. Doch war es nur den Glücklichen vergönnt. Die Gesetze, unter denen jeder Labyrinthbewohner stand, waren paradox, aber unabänderlich. Eines der wichtigsten lautete: Nur wer das Labyrinth verläßt, kann glücklich sein, doch nur der Glückliche vermag ihm zu entrinnen.
    Aber die Glücklichen waren selten in den Jahrtausenden.
    Wer den Versuch zu wagen bereit war, der mußte sich zuvor einer Prüfung unterziehen. Wenn er sie nicht bestand, so wurde nicht er bestraft, sondern sein Meister, und die Strafe war hart und grausam.
    Das Gesicht seines Vaters war sehr ernst gewesen, als er
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