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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel
Autoren: Michael Ende
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viel erstaunlicher, daß ich so alt werden konnte. Ich habe mir Mühe gegeben, Damen und Herren, ich habe getan, was mir möglich war. Ich sagte mir: Wenn alle anderen diese Welt ertragen, denen es doch sicher auch nicht leichter fällt als mir... Ich habe mein Leben lang gewartet und bin alt geworden in der Erwartung aufzuwachen, und seht her, wo ich bin! Ich beneide sie alle um ihre Unbekümmertheit. Ich bin bekümmert.
    Während er sich umzieht, kommt der Direktor herein, in Hut und Regenmantel, den unvermeidlichen kalten Zigarrenstummel zwischen den Zähnen. Die lange Manegenpeitsche mit dem kurzen Griff hat er unter den Arm geklemmt, die Schnur ist um den Stiel gewickelt. Er schüttelt den Hut aus, legt ihn auf den Schminktisch, die Peitsche daneben. Dann setzt ersieh rittlings auf den Stuhl, die Lehne zwischen den Knien. Das bedeutet, er hat etwas Wichtiges zu sagen. Der Clown steht da und bemüht sich, aufmerksam auszusehen.
    «Also», sagt der Direktor, «du weißt, worum es geht.»
    Er schaut sich um, als befürchte er, jemand könne in dem kleinen Raum zuhören. Der Clown nickt. Es geht darum aufzuwachen. «Wir machen mit», fährt der Direktor mit gedämpfter Stimme fort, «jetzt bleibt uns nichts anderes mehr übrig. Die anderen sind alle einverstanden. Und du?» Der Clown nickt wieder. Der Direktor faßt ihn an der Schulter und schüttelt ihn ein wenig. «Hör mal, jetzt geht es nicht mehr um deine Nummer. Es geht überhaupt nicht mehr um den Zirkus. Das ist alles vorbei seit heute abend. Das sind Dinge für normale Zeiten.»
    Dinge für einen anderen Traum. «Du mußt dich entscheiden», sagt der Mund mit dem Zigarrenstummel, «für uns oder gegen uns, heiß oder kalt. Wer sich da rauszuhalten versucht, ist ein Verräter und wird als Verräter behandelt, von allen.»
    Es ist verboten aufzuwachen. Der Clown nickt zum dritten Mal. «Gut», hört er die knarrende Stimme des Direktors, «wir verlassen uns also auf dich, mein Alter. Wir erwarten dich um Mitternacht zur Sitzung des Komitees. Aber sei pünktlich, hörst du? Dort wirst du alles weitere erfahren. Hier ist die Adresse.» Der Direktor gibt ihm einen Zettel in die Hand.
    «Lies sie, merke sie dir und verbrenne sie dann! Auf keinen Fall darf sie jemand anders erfahren, wer es auch ist. Verstanden?»
    Der Clown nickt und nickt.
    Der Direktor gibt ihm einen kleinen, freundschaftlichen Klaps auf die Backe, nimmt seinen Hut und geht. Die Peitsche hat er vergessen. Der Clown betrachtet sie, wie sie da auf dem Schminktisch liegt, greift vorsichtig danach und legt sich mit ihr aufs Bett. Er wickelt die Schnur los, rollt sie wieder auf, wickelt sie von neuem los.
    Schließlich kann ich doch wohl nicht der einzige sein, der was gemerkt hat. So schlau bin ich doch gar nicht. Man ist nur übereingekommen, nicht darüber zu reden. Oder wollen sie es gerade so? Gefällt ihnen allen dieser Traum?
    Der Clown steht auf, zieht sich seinen alten Mantel an, wickelt sich einen langen Schal um den Hals und setzt seinen Hut auf. Er liest noch einmal die Adresse, dann verbrennt er den Zettel im Aschenbecher. Die Flämmchen züngeln und erlöschen.
    Draußen, hinter dem Platz, wo die Wohnwagen stehen, beginnt eine kleine, zertretene Wiese. Dort trifft er auf eine Gruppe von Kollegen, die alle schweigend in eine Richtung blicken. Er nähert sich, um zu sehen, was es gibt.
    In einiger Entfernung, dort wo die beleuchtete Straße beginnt, die nach der Innenstadt zu führt, treiben einige schwarz uniformierte Milizsoldaten etwa zwanzig Männer und Frauen vor sich her, deren Hände auf den Rücken gefesselt sind. Obgleich keiner der Verhafteten sich wehrt, prügeln die Uniformierten ständig mit Knüppeln auf sie ein.
    Schon der Wunsch aufzuwachen gilt als Verbrechen.
    «Ich kann sowas nicht sehen», knirscht eine Akrobatin, die vor dem Clown steht, «ich kann's einfach nicht mit ansehen.»
    Ihr Partner, der neben ihr steht, versucht sie festzuhalten, aber sie reißt sich los und rennt auf die Gruppe der Verhafteten zu. Sie hat noch immer ihr Trikot an, nur einen Mantel über die Schulter geworfen. Sie umkreist die Uniformierten einige Male, vollführt alle möglichen provozierenden Bewegungen und schreit ihnen Beschimpfungen ins Gesicht, dabei verliert sie ihren Mantel. Die Milizsoldaten beachten sie nicht einmal. Statt dessen fällt einer der Verhafteten plötzlich wie tot zu Boden. Einer der Uniformierten stößt ihm den Stiefel in die Seite. Da das nichts nützt, schlägt er
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